Grandioser Totentanz

Über den ehemaligen U-Boot-Bunker Valentin in Bremen-Farge wurde zuletzt viel geschrieben. Etwas in Vergessenheit geriet indes, dass an jenem bedrückenden Ort vor mehr als 20 Jahren grandioses Theater aufgeführt wurde. Zeit für einen Rückblick.

Von Frank Schümann

Es war im Jahr 1999, als sich Johann „Hans“ Kresnik diesen Bunker zu eigen machte – und etwas ganz Besonderes schuf. Etwas, das von der versammelten Kritik später selten einhellig als „ein Stück Theatergeschichte“ beschrieben wurde. Der berühmt-berüchtigte Theaterregisseur und Choreograph inszenierte in diesem „Monument des Schreckens“ ein nicht minder monumentales Theaterstück, das der österreichische Dramatiker Karl Kraus über den Ersten Weltkrieg verfasst hatte, und dass der Autor selbst als eigentlich unspielbar bezeichnet hatte. Titel: „Die letzten Tage der Menschheit“.

Theateregisseur Johann Kresnik

Regisseur Johann Kresnik. Fotos: Jörg Landsberg

Der Moderator der ZDF-Sendung „Aspekte“ sagte später, der Bremer Intendant Klaus Pierwoß habe hier „einen wirklich unvergesslichen Aufführungsort“ geschaffen, und die Hannoversche Allgemeine Zeitung urteilte: „Dieser Totentanz ist eines der wenigen sensationellen Ereignisse im Theaterbetrieb. Seit langer Zeit und für lange Zeit.“ Der Kritiker sollte Recht behalten.

Erstaunlich leise Töne

Manch einer hatte zuvor Angst gehabt, dass der für seine brachialen Ausdrucksformen bekannte Regisseur zu sehr „draufhauen“ würde an diesem sensiblen Ort – doch diese Angst erwies sich als unberechtigt. Er haute zwar im theatralischen Sinne ab und an drauf, dann, wenn es nötig war; aber er war in dieser Inszenierung auch ein Meister der leisen, eindringlichen Töne.

Dieser Spielort nötigte sogar einem Kresnik Respekt ab: Zu gigantisch war er, der U-Boot-Bunker Valentin, den das NS-Regime zwischen 1943 und 1945 von über 12.000 Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen bauen ließ. Mindestens 1.600 Menschen kamen dabei ums Leben.

Mit echtem Panzer

Klaus Pierwoß erinnerte sich später wie folgt an die Anfänge dieses Projekts, das auch für ihn einen der größten Erfolge seiner 13-jährigen Intendanz am Bremer Theater bedeuten sollte: „Hans Kresnik wollte nicht mehr in unseren konventionellen Theaterräumen inszenieren und so dachten wir über einen geeigneten Spielort für ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ nach.“ Kresnik wollte eigentlich in eine Kirche, so Pierwoß weiter: „Mir vergegenwärtigten sich die Fotos vom U-Boot-Bunker in Bremen-Frage, den ich sofort am Tag nach dem Treffen mit Kresnik aufsuchte. Als ich den Ruinen-Teil des Bunkers besichtigte, wusste ich: Das ist der richtige Spielort“ (nachzulesen im Buch „Das Bremer Theater – Intendanz Klaus Pierwoss 1994/95 bis 2006/07“). Auch Kresnik war kurz darauf Feuer und Flamme für diesen Spielort; bis das Theater das Okay dafür bekam, den Bunker für kulturelle Zwecke zu nutzen, verging allerdings noch einige Zeit.

Der Bremer Bundestagsabgeordnete Volker Kröning (SPD) unterstützte das Projekt tatkräftig und war auch mitverantwortlich dafür, dass ein echter Bundeswehr-Panzer genutzt werden durfte; der Bremer Wirtschaftssenator Josef Hattig (CDU) half zudem finanziell. Noch einmal Pierwoß: „Die Realisierung der ‚letzten Tage der Menschheit war die größte Herausforderung in meiner Bremer Theaterzeit.“
Es sollte sich lohnen – künstlerisch wie auch finanziell, denn alle 20 Vorstellungen der Premieren-Spielzeit waren restlos ausverkauft, mehrfach wurde das Stück (unter durchaus schwierigen logistischen Bedingungen) in den folgenden Jahren wieder aufgenommen.

Premiere im Juni 1999

Am 3. Juni 1999 kam es zur Premiere, die von den Zuschauern – wenn sie es denn wollten – per Schiff erreicht werden konnte. Um die Zuschauer auf das Thema einzustimmen, zeigte das Theater bereits im Schiff Videos; manche Zuschauer ließen sich darauf ein, andere tranken lieber Bier an der Reling – noch nicht ahnend, was für ein intensives Theatererlebnis auf sie zukommen würde; auch wenn man um die Bedeutung des Spielortes wusste, und auch wusste, wer Regie führen würde.

„Das Gebäude ist Schock genug“

Denn Johann „Hans“ Kresnik, der 1939 geborene Österreicher, der das Bremer Tanztheater zweimal leitete und das hiesige Publikum kurze Zeit zuvor mit seiner Inszenierung von Beethovens „Fidelio“ gespaltet hatte, verstand sein Publikum schon immer zu schocken. Zum Erstaunen vieler hielt sich der Regisseur im Farger U-Boot-Bunker aber zurück: „Ich will hier kein Schock-Theater machen“, sagte Kresnik schon während der Probephase: „Das Gebäude ist schon Schock genug.“

Zuschauer wanderten mit

Und er hielt sich dran: Zwar waren manche der 39 Szenen, die er aus dem Kraus’schen Mammutwerk auswählte, gewohnt bildgewaltig. Es gab aber eben auch die stillen Passagen, in denen Ort und Atmosphäre für sich selbst sprechen konnten. Beeindruckend etwa das melancholische Trompetenspiel von Uli Beckerhoff, dessen Traurigkeit – auch ohne Worte – den Bunker komplett zu füllen schien.
Unter tropfendem Sickerwasser, echte Einschusslöcher im Blick, erlebte der Zuschauer im 400 Meter langen Bunker, mitwandernd die Schrecken eines Kriegs, der überall sein konnte – im ersten, im zweiten Weltkrieg, in Vietnam, in Korea, oder – was damals gerade gegenwärtig war – im Kosovo. Fast schmerzlicher noch als die vereinzelten Exekutionsszenen waren die Eindrücke subtiler Gewalt, die Kresnik mit seinen Bildern vermittelte; wenn ein Huhn gerupft wird oder Statisten in KZ-Kleidung vor einem Panzer kauern.

Soldaten mit Fahnen im Bunker„Krieg ist Krieg“

Das im Text von Kraus vorhandene Schlagwort „Serbien muss sterbien“ ließ der Regisseur entsprechend weg. Es war in der Tat nicht notwendig, diesen Bezug herzustellen, denn der war Kresniks Anspruch entsprechend in der Inszenierung ohnehin allgegenwärtig, was sich unter anderem in der Projektion des Satzes „Krieg ist Krieg“ an der Bunkerwand widerspiegelte.
Ansonsten zeigten Kresnik und sein Ensemble kasperleartige Generäle, Kriegsgewinnler und schlachtentrunkene Kriegsberichterstatter ebenso wie das Leiden des Krieges an sich; letzteres ließ der Regisseur die Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib spüren, indem er die Schauspieler immer wieder in die von Spielort zu Spielort wandernde Besuchermenge schickte – mal in Form von aggressiven Soldaten, mal als ängstlich-erschreckte Häftlinge.

Sogar Koschnick weinte

Wer damals bei der Premiere dabei war, weiß: Das Publikum vermochte kaum zu applaudieren, so intensiv war dieser Abend – und auch die sonst stets (zu Recht) nach Applaus heischenden Schauspieler kamen nach dem Abgang kein zweites Mal wieder. Nicht nur Hans Koschnick, Bremens Ex-Bürgermeister und ehemaliger EU-Administrator in Bosnien, hatte Tränen in den Augen – nach diesem Stück, das in der Tat auch von den Zuschauern einiges abverlangte, denn sie mussten sich auch auf die Kälte im Bunker einlassen. „Sonst hockt der Zuschauer schön im Warmen, hier steckt er ein bisschen drin“, hatte Kresnik diesen Punkt schon im Vorfeld kommentiert – und damit zugleich einen der Gründe für den Erfolg dieser Produktion genannt.

Klaus Pierwoß, dessen Intendanz 2007 endete, lebt seither in Berlin. Hans Kresnik starb 2019 im österreichischen Klagenfurt. Mit „Die letzten Tage der Menschheit“ hat er eine unvergessliche Theater-Aufführung geschaffen, die bei allen, die sie miterlebt haben, bis heute nachwirkt.

Denkort Bunker Valentin

Der Bunker Valentin ist seit fünf Jahren ein Denkort. Mehr Informationen darüber gibt es hier.