Ich habe einen Traum oder: Und wieder wehen die Mäntel
Wie es ist, mit einer Krebs-Diagnose umzugehen
Von Frank Schümann
Diagnose Krebs: Was macht es mit dem Menschen, der sie erhält? Und mit denen, die ihm nahestehen? Der nachfolgende Bericht ist das Zeugnis einer solchen Diagnose; schonungslos subjektiv und ganz und gar ungeschminkt. Dem Autor geht es heute, zwölf Jahre nach der Operation, wieder richtig gut. Er hat seither vieler Träume umgesetzt.
Was haben wir für Träume, Erwartungen, Hoffnungen. Wir wollen einen guten Job mit gutem Verdienst, möglichst den perfekten Partner; gute Arbeitszeiten, wenig Stress, tollen Urlaub, gutes Wetter; verlässliche Freunde, nette Nachbarn, ordentliches Essen und so weiter. Ach ja, der Lottogewinn fehlt noch. – Ich will nur eins: hier raus und gesund werden! Leben!
Zwei Wochen vorher. Morgens um sieben, Krankenhaus St. Jürgen-Straße, Kieferklinik. Für den Sommer ist es zu dunkel draußen und kühl; mich stört das nicht. Ich bin erst seit wenigen Minuten wieder hier, hatte ein Freigangwochenende, so wie ich es für mich nenne; seit sechs Wochen bin ich schwerpunktmäßig im Krankenhaus, und jetzt durfte ich für zwei Tage nach Hause. Eine weitere Gewebeprobe wollten sie untersuchen, und heute soll ich das Ergebnis bekommen. Ich bin einigermaßen zuversichtlich, wenn man so etwas in einer Phase des Wartens überhaupt sein kann; ich rechne damit, dass sie wieder nichts gefunden haben und neue Therapievorschläge machen.
Karzinom unter der Zunge
Die Tür geht auf, die weißen Kittel kommen herein. Visite. Der Chef als Erster, mit wehendem Mantel, seine Assistenzärzte folgen – fast spüre ich den Windzug noch, als sie vor mir stehen. Ich will einen Spruch machen, sehe aber, dass dem Professor überhaupt nicht danach ist. „Guten Morgen“, sagt er, gibt mir die Hand und konstatiert knapp: „Wir haben ein Karzinom unter der Zunge entdeckt, wir werden Sie morgen operieren. Möglichst früh, damit Sie nicht solange warten müssen. Wahrscheinlich um acht. Es handelt sich um Mundhöhlenkrebs. Wir werden auch die Lymphe untersuchen, um herauszufinden, ob er gestreut hat.“ Ich schlucke. Er fährt fort: „Es kann sein, dass wir große Teile der Zunge entfernen müssen. Ich werde am späten Vormittag noch einmal zu Ihnen kommen, um Details zu besprechen. Einen Termin beim Anästhesisten bekommen sie in Kürze von der Stationsschwester.“
Der Lebensfilm läuft ab
Ich schaue ihn an, mit immer größeren Augen. Erstaunlicherweise bin ich ruhig; bin ich geschockt, bin ich erleichtert? Wahrscheinlich beides. Ich stelle Fragen, er antwortet; dann gehen sie ab. Der Chef vorneweg, die Assistenten hinterher, wie gehabt; und wieder wehen die Mäntel. Ich bin alleine in meinem Zimmer. Stille. Mein Leben läuft vor meinen Augen noch einmal ab – der Klassiker. Ich bin im Kindergarten, will Astronaut werden, weil Neil Armstrong gerade den Mond betreten hat. Im Skiurlaub mit den Eltern, komme mit blutender Nase ins Hotel, weil mir die Piste zu langsam war und ich die Liftspur herunter rasen wollte. Ich habe die erste Freundin, mache Abi, werde Journalist. Drehe mich im winterlichen Kirchlengern mit meinem Kadett zweimal um die Achse und bleibe unverletzt in Fahrtrichtung stehen. Und weiter im Schnelldurchlauf.
Das Schwert des Damokles
Dann bin ich wieder bei mir. Wach. Und ruhig. Und klar. Ich schaue mich um, stehe auf und betrachte mich im Spiegel. Minutenlang stehe ich davor, um dann zu sagen: „Endlich.“ Ja, endlich habe ich Gewissheit, dass das, was seit Monaten unausgesprochen über mir schwebte, eingetreten ist. Vor Monaten hatte man große weiße Stellen bei mir im Mund zu entfernen versucht; Leukoplakie, die immer wieder auftauchte, gewissermaßen „nachwuchs“ nach jeder OP, die jedes Mal große Schmerzen beim Essen und Sprechen nach sich zog. Die mich in zahlreiche Arztpraxen brachte, mir einen Facharzt-Wechsel aufzwang und mich schließlich ins Krankenhaus führte, wo mich die Ärzte Tag für Tag, Woche für Woche untersucht hatten – an allen erdenklichen und auch nicht erdenklichen Stellen. Von Anfang an hing dieses Damoklesschwert über mir, ohne sichtbar zu werden; dieses Fünf-Buchstaben-Wort war seit zwölf Wochen greifbar, aber niemand sprach es aus – bis gerade eben.
Was jetzt zu tun ist
Ich blicke auf die Uhr, weiß plötzlich, was zu tun ist – vieles, und nicht unbedingt angenehmes. Die Lähmung der letzten Wochen fällt von mir ab, ich bin aktiv; mache einen Zettel, auf dem steht, wen ich alles anrufen muss, an was ich zu denken haben. Ich werde Schläuche im Mund haben, also brauche ich weite T-Shirts. Einen Morgenmantel. Neue, weiche Zahnbürsten, falls sie mich in den ersten Tagen überhaupt aus dem Bett und an den Mund lassen. Zusätzliche Schmerzmittel, falls ich wieder eine der üblen Nachtschwestern bekomme, die mir keine Pillen geben will, wenn ich sie brauche. Die Verabredungen der nächsten Wochen, die ohnehin nur Krankenhausbesuche gewesen wären – absagen. Und das Wichtigste, das Schwierigste: Jetzt meine Lieben informieren, die, die mir am Wichtigsten, die am Nächsten dran sind.
Und natürlich das Theater, mein Arbeitgeber. Damit beginne ich. Ich erwarte, dass all die Menschen, die ich jetzt anrufen werde, genauso cool mit der Nachricht umgehen werden wie ich denke, dass ich es bin. Sie waren so stark in den letzten Wochen, haben mir solch eine Kraft gegeben. Aber ich täusche mich.
Telefonate und Zusammenbrüche
Der Betriebsdirektor des Theaters ist der Erste, den ich anrufe – ein Freund, das macht es leichter. Er reagiert professionell wie immer; dennoch – er wirkt geschockt, kurzzeitig. Dann fasst er sich und fragt: „Willst Du heute Leute sehen?“ Ich zögere, darüber habe ich noch nicht nachgedacht; ich sage ja. „Gut“, sagt er; wir verabreden uns für den Nachmittag. Das Gespräch war irgendwie schwerer als vorher angenommen, denke ich noch; und doch war es nur der Anfang. Der Kollege hat sich gut gehalten.
Ich telefoniere mit meiner Mutter, dann mit einer Freundin, die sich in den letzten Wochen so fantastisch um mich gekümmert hat. Dann mit der Frau, mit der ich in den letzten Wochen ein engeres Verhältnis hatte, ohne es offen zu leben. Sie brechen alle drei mehr oder minder zusammen; sie weinen, damit habe ich nicht gerechnet. Ich weine nicht, zu meinem eigenen Erstaunen. Ich tröste sie. Sie wollen mich alle heute noch einmal sehen. Ich verabrede mich aber nur mit Birgit, sage ihr, dass ich ab morgen wahrscheinlich nicht mehr küssen kann. Sie sagt nichts, aber ich weiß, dass sie schluckt. Mit meinen Eltern mache ich ab, dass sie morgen kommen, mit meiner engen Freundin Petra ebenfalls; Petra wird da sein, wenn ich aufwache. Sie wird meine Eltern informieren und den Rest des Freundeskreises, der in einem Mailverteiler zusammengefasst ist, der immer größer wird. Ich lege nach dem dritten Gespräch auf und puste erst einmal durch; es ist soweit alles organisiert. Ich führe noch weitere Gespräche, schreibe SMS und frage die Stationsschwester zwischendurch immer nach den nächste Arztterminen.
Eine letzte Frikadelle
Jetzt aber, am späten Nachmittag, bin ich alleine, und die Gedanken verschaffen sich Raum – was ist mit meiner Zunge? Werde ich sie morgen nach haben? Was meinen die Ärzte damit, wenn sie sagen, es könnte sein, dass sie einen großen Teil entfernen? Möglicherweise die ganze Zunge? Werde ich jemals wieder sprechen können? Essen? Werde ich am Unterkiefer noch Zähne behalten? Und, sehr wichtig – werde ich jemals wieder küssen können? Ich verdränge die Gedanken – einmal küsse ich mit Sicherheit noch, denke ich trotzig, ich bekomme ja nachher noch Besuch. Zur Zerstreuung höre ich den Anrufbeantworter ab; zehn Minuten später denke ich, dass ich das besser nicht getan hätte. Die Nachricht hat sich herumgesprochen, viele Menschen wünschen mir mit belegter Stimme Glück – was mich einerseits freut, mir andererseits aber auch sehr die eigene Lage verdeutlicht.
Doch noch ist keine Zeit für schwere Gedanken, zwei Besuche stehen noch aus. Zuerst kommt Sanni, die ich auch noch angerufen hatte, um ihr zu sagen, was mir bevorsteht – doch Sanni, aktiv wie sie ist, lässt sich mit der Nachricht nicht abspeisen, sie kommt vorbei. Später wird sie dazu sagen: „Ich wollte Dich einfach noch mal sehen, Dich so in Erinnerung behalten, wie ich Dich kannte – denn wir wussten ja alle nicht, wie Du nach der OP aussehen würdest, wie es überhaupt weitergehen würde.“ Harter Tobak, ja, aber sie hatte Recht. Sie sprach das aus, was viele andere gedacht hatten – ich selbst auch.
Ein Besuch
Und dann: Birgit. Eine seltsame Begegnung. Hektisch, aufgeregt wirkt sie, drückt mich eng an sich, ruft, „was machst Du für Sachen“. „Du kommst spät“, sage ich, obwohl ich die Gründe dafür kenne. Dann erzähle ich ihr vom Tag; langsam weicht die Anspannung, die sich offenbar doch im Körper aufgestaut hatte.
„Wollen wir etwas gehen?“
„Ja.“
Wir nehmen uns an die Hand, schauen uns an und ich weiß, dass es das letzte Mal sein wird, dass wir so innig miteinander sind – innig im Rahmen dessen, was ein Krankenhaus zulässt. Ich weiß, dass die Umstände nicht für uns sprechen, und es ist in Ordnung. Aber jetzt, jetzt ist sie da, und es ist gut, dass sie da ist.
Wir verlassen das Zimmer und durchfluten die Gänge mit unserer partiellen Gemeinsamkeit; ein seltenes Gut. Wir sehen Krankenschwestern, Ärzte, Patienten, Besucher; alle haben sie einen Grund, hier zu sein; manche gucken geschäftig, andere haben Schmerzen im Blick, wieder andere schauen auf die Uhr. Manche haben sichtbar Angst. Die Besucher mehr als die Patienten.
Und ich? Gehe mit einer Frau an der Hand in Richtung Ausgang, wissend, dass ich gleich zweifach einen letzten Kuss erleben werde… habe ich morgen noch eine Zunge….? Ich weiß es nicht. Ich nehme Birgit mit hinaus, es ist dunkel mittlerweile, die Besuchszeit neigt sich dem Ende entgegen; der Mond ist sichtbar, die Luft plötzlich milde; wir küssen uns, und ich fühle mich wie die Ente, die sich in einer bekannten Karikatur in das noch bekanntere Bar-Bild von Edward Hopper eingeschlichen hat. Es ist schön und doch… die gesamte Szenerie scheint unwirklich.
Ich nehme Abschied. Nehme ich Abschied? So also fühlt er sich an, denke ich, der letzte Kuss.
Dann ist es vorbei, Birgit geht. Ich bin alleine.
Ein schwerer Gang
Ich trete den Gang nach oben an, der plötzlich sehr schwer ist. Melde mich zurück auf der Station. Nehme den OP-Kittel und die Haube in Empfang. Jetzt kommen sie wieder, die Gedanken… mit aller Wucht.
Wie wird es weitergehen? Was werden sie machen morgen? Hat er schon gestreut, dieser verdammte Krebs? Werde ich meine Zunge fühlen, wenn ich aufwache? Und ganz profan… wird es sehr wehtun, wenn ich wach werde? Werde ich überhaupt wieder wach? Nein, weg mit der Angst, weg, weg… plötzlich sind da andere Gedanken, die sind noch stärker, klarer, heller, und die schreien mich geradezu an, nein, Du wirst nicht aufgeben, Du wirst leben… Ja, ich werde leben, noch lange, und ich werde kämpfen, oh verdammt, wie werde ich kämpfen. Ich weine und bete und doch habe ich ein Lächeln auf den Lippen, als die Tabletten Wirkung zeigen und ich schließlich im Schlaf versinke.
Der Tag der OP. Es ist geschafft.
Die Operation ist gut verlaufen. Ich bin morgens als erster dran gekommen, gut sechs Stunden haben sie mich operiert. Das Karzinom wurde entfernt, am Mundboden unter der Zunge. Ein Teil der Zunge musste raus, zum Glück kleiner als befürchtet, vom Unterkiefer blieben immerhin rechts noch vier Zähne. Die Lymphe haben sie geöffnet, ich habe großes Glück gehabt, der Krebs hat nicht gestreut. Das Loch im Mund haben sie mit Oberschenkelhaut gefüllt, so gut es ging; auf meinem Oberschenkel prangt ein tiefrotes Rechteck. Die frisch transplantierte Haut wird mit einem Plastik-Verband nach unten gedrückt, befestigt mit einem Draht, der durch das Gewebe am Kinn vorbei nach außen führt und dort befestigt wurde. Aus der Nase kommt eine Magensonde, ich hänge am Tropf, und unten baumelt ein Katheter. Aber alles ist gut gegangen, und das Schönste: ich werde weiter sprechen können. Und irgendwann auch wieder küssen. Aber das weiß ich jetzt noch nicht, denn ich wache jetzt erst auf.
Als Erstes versuche ich im Mund, etwas zu ertasten. Es geht, ich fühle etwas….! Es scheint gut gegangen zu sein! Ich sehe die Freundin; reden kann ich noch nicht, ich versuche es, doch es kommt nur Gebrabbel. Aber Petra sieht beruhigt aus. Sie lächelt. Eine Krankenschwester betritt den Raum, es ist die nette Schwarze, die gestern schon hier war. Sie macht mir ein Victory-Zeichen. Morgen wird sie mir mit breitestem Lachen einen Handspiegel geben – ich erschrecke dann fürchterlich, denn ich sehe aus wie David Lynchs Elefantenmensch. Alles ist geschwollen, mein Kopf wird doppelt so breit aussehen. Sie wird dann lachen und mich beruhigen, sagen, dass es in 2-3 Tagen wieder besser sein wird. Sie hat Recht. Ich mag sie.
Ich weiß, dass es jetzt gut wird
Ich bin froh, dass die OP vorbei ist, und ich weiß, dass es jetzt gut wird. Sprechen kann ich erst mal nicht, an Nahrung nehme ich über Wochen nur Flüssiges auf, aber es ist okay – denn ich höre die gute Nachricht, dass der Krebs nicht gestreut hat. Ich bin glücklich. Außerdem erfahre ich, dass das Sprechen sehr bald wieder möglich sein wird, dass ich ein bißchen Geduld brauche, die ich gerne aufbringe. Dass jetzt die Zeit der Schmerzen beginnt, dass ich Überlebensstrategien entwickle, um an meine nötige Rationen Tabletten zu kommen, dass ich zum Schnellschreiber werde, um mich irgendwie verständlich zu machen, dass ich nachts nicht schlafen kann, weil es so weh tut, dass mich die Sonde am Schlucken hindert – geschenkt. Es geht voran, das ist die Hauptsache. Mein Freund Jens versorgt mich mit neuen CD’s, und auch alle anderen sind da – vor allem im Gesicht meiner Mutter erkenne ich, dass es bald besser sein wird. Es hat wieder Spuren der Zuversicht. Birgit kommt nicht mehr; aber das ist in Ordnung, denn ich weiß, bald werden wieder andere kommen.
Zwei Wochen nach der OP erscheint wieder der Professor, die wehenden Mäntel folgen. Der Körper habe die Transplantation gut angenommen, sagt er, und auch die Wunde am Oberschenkel verheile ordentlich. Ich kann nach Hause und in vier bis fünf Monaten wahrscheinlich auch wieder arbeiten. Wenngleich er meine Antwort auf seine Frage, was ich von Beruf sei – Pressesprecher – recht deftig kommentiert: „Das ist ein echter Scheiß-Beruf für das, was sie haben.“ Ich nehme es mit Humor, denn ich mag ihn, den Beruf; und den Professor mag ich auch. Hinter seiner trockenen, bisweilen derb wirkenden Art verbirgt sich ein akribisch arbeitender, äußerst gewissenhafter Mensch, der es einfach nur meisterhaft versteht, seine zweifellos vorhandene Sensibilität zu verbergen. In einem dieser ruhigeren, intensiven Momente fragt er mich, ob ich mit all dem zurechtkomme, was ich hier erlebe; oh ja, sage ich, ich freue mich auf das, was kommt. Noch weiß ich nicht, dass einige Operationen folgen werden; dass ein Jahr vergehen wird, bis ich neue Zähne erhalte; dass auch der Prozess des Sprechen-Lernens sehr mühsam sein wird; aber ich glaube immer daran, dass ein normales Leben wieder möglich ist.
Einen Tag danach komme ich raus. Verlasse das Krankenhaus. Genieße den Wind. Die Menschen, die ich sehe. Atme die Freiheit. Ich denke diesen Satz und weiß, dass er völlig kitschig klingt. Und doch stimmt er, dieser Satz.. Ich bin wieder da. Und ich hab‘ noch was vor. Oh ja, verdammt viel. Herr Doktor, ich hab‘ da noch ’nen Traum zu leben. Mindestens einen.