Die sichere Blase

Die Corona-Pandemie hat die internationale Schifffahrt verändert. Schätzungsweise 400.000 Seefahrer sitzen weltweit fest – ein Blick in die stadtbremischen Häfen.

Von Ulf Buschmann

Die „MS Seeland“ hat gerade den Fehmarnbelt passiert. Der 88 Meter lange und 12,5 Meter breite Frachter mit Heimathafen Stade ist auf dem Weg von Bremen über Brake ins litauische Liepaja. Dort soll die „Seeland“ am 2. Januar um 5 Uhr früh festmachen. So vermeldet es das Portal Marine Traffic. Für die Besatzung heißt es: Den Jahreswechsel verbringt sie nicht zuhause. Für sie ist es normal, es gehört zu ihrem Beruf.

Trotzdem sei es hart, die Familie nicht zu sehen. Im Fall der „Seeland“-Besatzung kommt hinzu, dass die Familien auf der anderen Seite des Globus leben – die meisten Besatzungsmitglieder kommen von den Philippinen. Der Staat im Südosten Asiens gehört zu den wichtigsten so genannten Labour Supply Countries, abgekürzt LSC: Reedereien weltweit stellen die Männer ein. „Auf den Philippinen gibt es keine Arbeit“, sagt Besatzungmitglied Vincent.
Er und seine Kollegen machen an diesem Wochentag zwischen Weihnachten und Neujahr einen gutgelaunten Eindruck. Kontakt mit ihren Familien könnten sie immer dann halten, wenn sie in einem Hafen liegen – wie heute in Bremen an der Getreideverkehrsanlage. „Mit dem Crewwechsel haben wir keine Probleme“, sagt Vincents Kollege. Er nennt zwar seinen Namen, aber der philippinische Akzent und der Lärm beim Verladen des Getreides sorgen dafür, dass er nicht zu verstehen ist.

Schifffahrt Besatzung Philippinen Hafen

Die Besatzung der „Seeland“ kommt von den Philippinen. Die Stimmung an Bord ist scheinbar gut. Foto: Ulf Buschmann

400.000 Seefahrer sitzen fest

Vincent und seine Kollegen scheinen einen guten Arbeitgeber erwischt zu haben. Die Stader Karl Meyer-Gruppe, zu der die „MS Seeland“ gehört, scheint für ihre Leute zu sorgen. Dies ist seit Frühjahr nicht überall so. Die Corona-Pandemie hat nicht nur das gesellschaftliche Leben verändert. Gleiches gilt für die internationale Schifffahrt. Geschlossene Grenzen mit restriktiven Einreisebeschränkungen als erste Maßnahmen gegen das Virus sorgten dafür, dass insbesondere im Frühjahr tausende Seefahrer in fremden Häfen festsaßen. Ihre Zahl wird noch immer weltweit auf rund 400.000 geschätzt. Statt der üblichen neun Monate an Bord verbringen die Männer zwölf bis 16 Monate dort.

Zwar hat sich die Lage international inzwischen entspannt, doch noch immer gibt es Seeleute, die wegen der restriktiven Anti-Pandemie-Maßnahmen nicht in ihre Heimatländer einreisen dürfen und somit von ihren Familien getrennt sind. Als aktuelle Problemstaaten nennt Susan Linderkamp, Inspektorin der Internationalen Transportarbeiter Förderation (ITF) in Bremen, Indien, Tonga, den Inselstaat Kiribati und vor allem China. Das Land sei „der Knotenpunkt, um nach Hause zu kommen“, weiß Linderkamp. Es gelte auch für Crewwechsel in den bremischen Häfen, der dort jedoch gut funktioniere.

Dass es mit dem Crewwechsel jetzt besser klappt, hängt in erster Linie mit Beschlüssen der Vereinen Nationen (UN) und der International Labour Organisation (ILO), einer Unterorganisation der UN, zusammen. Danach wird Seefahrern der Status als „key worker“ zugestanden. Die 187 UN- und ILO-Mitgliedsstaaten werden aufgefordert, Crewwechsel und damit die Heimkehr der Seeleute möglich zu machen.

Interview Reling Schifffahrt Hafen

Arbeit unter Corona-Bedingungen: Seefahrer berichten offen über ihre Situation. Foto: Bremer Seemannsmission

Seefahrer sollen systemrelevant sein

In seltener Einmütigkeit fordern denn auch der Verband Deutscher Reeder (VDR) und die ITF, diese Berufsgruppe als systemrelevant anzuerkennen. „Die Schifffahrt steht für 90 Prozent des Welthandels“, begründet VDR-Präsident Alfred Hartmann die Forderung. Inzwischen ist auf diesem Gebiet etwas geschehen. „Einige Länder sehen Seefahrer als systemrelevant an“, sagt auch ITF-Frau Linderkamp. Europa sei gut aufgestellt.

Auf den Philippinen scheint sich die Situation für die Seefahrer in den vergangenen Wochen entspannt zu haben. Das zumindest berichtet Willi Wittig. Er ist Präsident des Verbandes Deutscher Kapitäne und Schiffsoffiziere (VDKS) und Professor des Internationalen Studiengangs Ship Management B.Sc. (Nautical Sciences) an der Hochschule Bremen. Laut Wittig hat die philippinische Regierung Hotels angemietet. Dort verbringen Seeleute nach dem Ende ihrer Zeit als Crewmember und vor der Rückkehr zu ihren Familien 14 Tage in Quarantäne.

Aus der Sicht von ITF-Inspektorin Linderkamp ist damit das Problem der Infektion mit Corona allerdings nicht gelöst. Nicht alle Seefahrer lebten in der Hauptstadt Manila. Sie würden sich auf dem Weg zu ihrem Schiff im Hafen oder auf dem Weg nach Hause infizieren. „Dieses Hin- und Herschaffen ist ein Problem“, sagt Linderkamp. Deshalb gilt zurzeit weltweit die Regel, die sie so beschreibt: „Die Seefahrer sind an Bord in einer sicheren Blase.“

Seemannsmission Schifffahrt Hafen

Die Leute der Bremer Seemannsmission sind täglich in den Häfen unterwegs. Foto: Ulf Buschmann

Auswirkungen für die Bremer Seemannsmission

Dass das Coronavirus die Schifffahrt verändert hat, merken auch die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bremer Seemannsmission, die vor zwei Jahren vom Stephanie-Viertel ins Lichthaus nach Gröpelingen gezogen sind. Wie jede Seemannsmission an der deutschen Küste, betreiben die Bremer einen Club – hier heißt er „Lighthouse“. Dort haben Seefahrer einen festen Anlaufpunkt, um zum Beispiel kostengünstig im Internet zu surfen oder auch mal etwas zu trinken – normalerweise. „Wir haben den Club geschlossen“, sagt Magnus Deppe, Diakon und Leiter der Bremer Seemannsmission.

Seit März haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutlich mehr zu tun, findet er. Einer der Gründe sei, dass es aufgrund der Pandemie „deutlich weniger Ehrenamtliche“ gebe. Also wuppen neben Deppe Michael Klee, Leiter des Clubs „Lighthouse“ sowie Martin Foth und ein weiterer Freiwilliger die Arbeit. Letzterer möchte lieber im Hintergrund bleiben. Die Vier werden durch zwei junge Leute unterstützt, die ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der Bremer Seemannsmission ableisten.

Wie die Stimmung unter den Seefahrern ist, erfahren die Leute der Bremer Seemannsmission auch an diesem grauen Dezembertag kurz nach Weihnachten wieder einmal. Außer der „MS Seeland“ geht es zu weiteren vier Schiffen in den Industriehäfen. Auf dem Programm stehen die „Cecilia“, die „Icelandhav“, die „Wilson Dover“ und die „Windstar“ mit Heimathafen Bergen in Norwegen. Die Besatzungen stellen Männer von den Philippinen, aus Polen und aus Russland.

Hafen Ladung Schifffahrt

Noch liegt die „Windstar“ an der Pier des Weserport. Ihr nächstes Ziel ist Dover. Foto: Ulf Buschmann

Schokolade für die Besatzung

Türöffner sind einige Tafeln Schokolade, warme Socken und Mützen. Darüber würden sich insbesondere die Männer von den Philippinen freuen. Für die russischen Besatzungsmitglieder gibt es die Zeitung „Argumenti i fakti“. Diese wird wahrscheinlich auch von Vitali Uzlow gelesen. Er ist Kapitän der „Windstar“. Während nach und nach schwere Eisenträger im Bauch des 1991 gebauten Schiffs mit einer Gesamtlänge von 83 Metern und einer Breite von 13 Metern verladen werden, blickt er mit gemischten Gefühlen auf die aktuelle Situation.

Dazu hat Uzlow allen Grund. Denn vom Bremer Weserport, wo das Schiff an diesem Tag vertäut ist, geht die Reise weiter ins britische Dover. Der Kapitän hat angesichts des in Großbritannien nachgewiesenen mutierten Coronavirus für seine Männer die Devise ausgegeben, an Bord zu bleiben. Immerhin sei es nicht so schwer, die Crews zu wechseln. Und Kontakt zu den Familien könnten auch alle halten – die „Windstar“ hat einen bordeigenen Zugang zum Internet. In Dänemark und Norwegen gebe es sogar unbegrenzte Datenmengen, sodass für die Besatzung auch Videocalls möglich seien, meint der „Windstar“-Chef.

Verbesserungen für Seefahrer

Die ITF fordert schon seit vielen Jahren Verbesserungen für Seeleute ein; Inspektorin Susan Linderkamp listet die wichtigsten auf:

  • Sicherstellung aller Grundbedürfnisse der Besatzung. Hierzu zählt unter anderem die Körperpflege.
  • Bereitstellung von Persönlicher Schutzausrüstung für die Besatzung.
  • Pünktliche Crewwechsel nach neun, maximal zehn Monaten.
  • Kostenfreien Zugang zum Internet.
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