„Hochsensibilität ist keine Krankheit“
Hochsensibilität oder auch Hochsensitivität – was ist das? Wie drückt sie sich aus? Wie geht man damit um? Solche Fragen beantwortet Coach und Systemische Beraterin Manuela Meier in Einzelterminen und Seminaren.
Manuela Meier ist selbst hochsensitiv und begleitet ihre Teilnehmer seit Jahren mit fundierten Informationen, Tipps und praktischen Übungen – auch zum Thema Hochsensibilität. In Rotenburg hat sie einen Treffpunkt für Hochsensible gegründet. Unsere Redakteurin Daniela Krause hat sich mit ihr zum Interview getroffen.
Frau Meier, wie ist der Treffpunkt für Hochsensible entstanden?
Der Treffpunkt für Hochsensible ist zu einem großen Teil aus meiner eigenen Geschichte heraus entstanden. Als hochsensitiver Mensch fühlt man sich oft etwas alleine, immer irgendwie anders. Manchmal entwickelt sich daraus sogar ein Gefühl von verkehrt sein. Durch meine Ausbildungen und persönlichen Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, hat sich vieles positiv und für mich immer stimmiger verändert. Diesen Erfahrungsschatz wollte ich gern mit anderen teilen und betroffene Gleichgesinnte unterstützen und inspirieren.
So kam mir die Idee, zusätzlich zu den Einzelcoachings und Seminaren, auch einen monatlichen Treffpunkt ins Leben zu rufen. Ich war sehr überrascht, wie viele Leute aus dem Landkreis sich auf meinen Aufruf hin gemeldet haben. Es gab ganz viel Zuspruch, doch dann kam Corona, und erst im September 2021 konnten wir wieder mit der Gruppe weitermachen.
Sie sind selbst hochsensibel beziehungsweise hochsensitiv. Wie hat sich das bei Ihnen bemerkbar gemacht?
Zunächst einmal: Es gibt keine Diagnose, denn die Hochsensitivität, umgangssprachlich auch Hochsensibilität genannt, ist keine Krankheit! Es ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das etwa 15 bis 20 Prozent aller Menschen betrifft und den zahlreichen Forschungsergebnissen nach wahrscheinlich vererbt wird. Bei mir war es so, dass ich schon als Kind vieles wahrgenommen und hinterfragt habe und immer auf der Suche nach Erklärungen und Antworten war. Es wird schwierig, wenn man über eine gesteigerte Wahrnehmung und Empfindungstiefe verfügt, die aber vom Umfeld kaum Verständnis erfährt.
Ich habe schließlich verschiedene Aus- und Weiterbildungen absolviert, um mich selbst und die Menschen als solches besser verstehen zu können und arbeite seit einigen Jahren in der Beratung, Begleitung und dem Coaching. Eine spezielle Ausbildung zum Coach für hochsensitive Menschen brachte dann nochmal mehr Selbsterkenntnis und erweiterte meinen Methodenkoffer für ein gesundes, gelingendes Leben, auch für Hochsensible.
Wie würden Sie Hochsensibilität bzw. Hochsensitivität allgemein erklären?
Menschen mit diesem Persönlichkeitsmerkmal haben eine feinere, ausgeprägtere Wahrnehmung, als sie bei den 80 bis 85 Prozent der anderen Menschen vorhanden ist. Es scheint eine Filterung der Sinneswahrnehmung zu fehlen, so dass auch vermeintlich unbedeutende Reize in übergeordnete Gehirnregionen weitergeleitet und sowohl bewusst als auch unbewusst tiefer verarbeitet werden. Dadurch kann es schneller zur Überreizung und Überforderung des Nervensystems kommen. Experten halten es deshalb für immens wichtig, über seine Hochsensitivität oder die seines Kindes Bescheid zu wissen und einen guten Umgang damit zu pflegen.
Gibt es unterschiedliche Ausprägungen der Hochsensitivität?
Man unterscheidet vier Sensitivitäts-Typen laut der neuesten Forschungen: Es gibt eine geringe Sensitivität und die sogenannte generelle Sensitivität, bei der eine Empfänglichkeit gegenüber sowohl negativen als auch positiven Einflüssen besteht. Die vulnerable Sensitivität wird meistens schon durch Erlebnisse in der Kindheit geprägt und führt häufig zu Problemen im erwachsenen Leben, da man empfänglicher gegenüber negativen Einflüssen ist.
Dann ist da noch die Vantage Sensitivität. Diese beschreibt die Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit, A. d. R) gegenüber negativen Einflüssen und die starke Wahrnehmung und Empfänglichkeit für Positives; sie kann als Ziel dienen und Schritt für Schritt erlernt werden. Aber ich möchte betonen, dass ich nichts von in Schubladen denken halte! Wir Hochsensitiven sind uns in vielerlei Hinsicht ähnlich, aber jeder Mensch ist eben doch ganz einzigartig und individuell.
Wann spüren Sie persönlich im Alltag stark Ihre Hochsensitivität?
Wenn sich zum Beispiel an einem Tag mehrere Termine aneinanderreihen und ich vielen äußeren Reizen ausgesetzt war, muss ich mich abends erst einmal selbst wieder einsammeln und zentrieren. Shoppen ist bei mir auch ein zeitlich begrenztes Vergnügen, und Menschenansammlungen meide ich eher, außer der Kontext interessiert oder berührt mich, wie beispielsweise bei einem Konzert oder einem Seminar.
Natürlich bringt die Fähigkeit von gesteigerter Wahrnehmung und Empfindungstiefe auch viele schöne Momente mit sich. Etwa wenn ich in der Natur bin, in den Bergen und ich stehe auf dem Gipfel und bin so berührt von dieser Schönheit, dass mir die Tränen kommen. Aber auch in meiner Arbeit mit Menschen ist die gesteigerte Wahrnehmung und Empathie eine wundervolle Ressource um nachhaltige Veränderungen anzustoßen.
Sie sagen, Hochsensibilität ist keine Schwäche, sondern birgt ein hohes Potenzial. Inwiefern?
Wenn wir unsere Eigenart erst angenommen haben und dementsprechend unser Leben einrichten, können auch die positiven Aspekte anerkannt werden. In der Arbeitswelt beispielsweise könnte man sehr von dem hochsensitiven Blick über den Tellerrand und einem Denken in größeren Zusammenhängen profitieren. Durch die Wahrnehmung von Stimmungen und Befindlichkeiten, aber auch von Missständen und Problematiken könnten Hochsensible in Firmen und Teams für ein besseres Arbeitsklima sorgen. Viele Hochsensible haben zudem eine gute Intuition und ahnen, was falsch läuft oder auch was gebraucht und gewünscht wird. Ein starker Gerechtigkeitssinn und ein großes Harmoniebedürfnis, sowie Kreativität, Ideenreichtum, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit beschreiben viele Hochsensitive.
Manchmal sind hochsensible Kinder abends so überfordert von den Eindrücken des Tages, dass sie plötzlich in Tränen ausbrechen. Die Eltern fragen sich dann, was passiert sei.
Dennoch begegnen Hochsensible oft Vorurteilen. Welchen?
„Stell dich doch nicht so an! Was hast du denn schon wieder?“, das sind nur zwei Sätze von vielen, die man oft zu hören bekommt. Es ist leider so, dass einige meiner Teilnehmer schon Mobbing-Erfahrungen gemacht haben – besonders in der Schulzeit. Im späteren Leben könnte Burnout zu einem Thema werden, gerade wenn einem seine Eigenart nicht bewusst ist.
Häufig wird die Hochsensibilität in der Öffentlichkeit als Schwäche gedeutet. Dabei leisten Betroffene durch die gesteigerte Wahrnehmung und Verarbeitungstiefe Schwerstarbeit. Hochsensible arbeiten auch gern selbstständig und können, wenn Umfeld, Rahmen und Interesse stimmen, große Leistungen erbringen. Durch das Vergleichen und den Versuch der Anpassung allerdings überfordern sich viele, bekommen Selbstzweifel und haben ein Gefühl von Unzulänglichkeit.
Dass man hochsensibel ist, merken die meisten erst im Erwachsenenalter. Wie macht sich Hochsensibilität im Kindesalter bemerkbar?
Auf verschiedene Weise: Es kann zum Beispiel sein, dass ein Kind sich nicht am Gruppenspiel beteiligt, weil es allein durch die Wahrnehmung und Beobachtung gefordert scheint. Oder ein Kind gibt dem anderen ein Spielzeug, bevor es danach fragt, weil es die Bedürfnisse des anderen eher spürt als seine eigenen.
In der Schule kann es Schwierigkeiten geben, da die Kinder durch die Fähigkeit der ausgeprägten Wahrnehmung schnell abgelenkt sind oder auch, weil so manche Antwort nicht spontan geäußert, sondern erst durchdacht und abgewogen wird. Manchmal sind hochsensible Kinder abends so überfordert von den Eindrücken des Tages, dass sie plötzlich in Tränen ausbrechen. Die Eltern fragen sich dann, was passiert sei.
Wie kann man sein Leben mit Hochsensibilität annehmen – und vor allem genießen? Welche Veränderungen braucht es dafür aus Ihrer Sicht?
Mit der Selbsterkenntnis ist es wie mit einem großen Tor, das aufgeht. Bleibe ich hier oder gehe ich hindurch? Letzteres braucht etwas Mut, um für Veränderungen und ein stimmigeres Leben zu sorgen. Wichtig ist zum Beispiel, für einen Rückzugsort zu sorgen, wo man in der Stille regeneriert, meditiert oder sich Zeit zur Verarbeitung der Datenfluten nehmen kann. Viele gehen auch gern in die Natur, weil sie eine große Energiequelle für uns ist. Ein weiterer Tipp ist regelmäßige, moderate Bewegung, die bekannterweise eine positive Wirkung auf die Psyche hat.
Wenn man sein Leben passender und stimmiger zu seinen eigenen Bedürfnissen und Werten einrichtet, dann ist das nicht nur zuträglich für die Gesundheit und das Glücksempfinden, sondern auch für unser ganzes Umfeld.
Welche Rolle spielt der Austausch in der Gruppe für Menschen mit Hochsensibilität?
Die Gemeinschaft unter Gleichgesinnten ist ganz wichtig. Wenn wir uns in der Gruppe austauschen, erleben wir Ähnlichkeiten, auch in unseren Wahrnehmungen, Empfindungen und Erfahrungen, und fühlen uns dadurch nicht mehr so anders oder allein. Die Teilnehmer unterstützen und ermutigen sich gegenseitig und bewährte Tipps und Übungen aus der Gesundheitsberatung und dem Coaching bereichern den monatlichen Treffpunkt zusätzlich.
Ein Treffpunkt für Hochsensible
Hochsensible treffen sich jeden ersten Dienstag im Monat von 19 bis circa 21 Uhr im Mehrgenerationenhaus in Waffensen. Eine Anmeldung ist erforderlich. Speziell für Familien mit hochsensiblen Kindern bietet Manuela Meier Beratungen mit Tipps für den Alltag an. Am 4. März hält sie zum Thema „Hochsensibilität in der Partnerschaft“ einen Vortrag. Mehr Infos gibt es online oder unter 0176-42206511. Auch Coachings via Zoom sind möglich.
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