Der Sänger und die stürmische See

Wer diese Platte noch nicht kennt, sollte das nachholen: Achim Reichels „Regenballade“ aus dem Jahre 1978 ist folkig, ist rockig, ist maritim, ist norddeutsch, ist zeitlos. Es vermittelt die Empathie alter Texte und fügt ihnen ein homogenes, oft kongeniales Momentum hinzu – das der Musik.

Von Frank Schümann

In der Schule lernt man nichts? Von wegen! Es war im Winter 1978, als mir Achim Reichel das erste Mal begegnete – ausgerechnet im Englisch-Unterricht. Der fiel nämlich aus, und der Musiklehrer, der die Vertretung übernahm, hatte Besseres zu tun, als uns pubertierenden 14-Jährigen Vokabeln beizubringen. Er spielte uns stattdessen Musik vor, in Form einer Platte, die wenige Monate zuvor erschienen war und „Regenballade“ hieß.

Vertonte Gedichte

Ich hatte von jenem Achim Reichel bis dato noch nichts gehört, wusste also nicht, dass er mit den „Rattles“ zuvor so etwas wie das deutsche Pendant zu den „Beatles“ gewesen war. Aber, um das vorwegzunehmen: Reichels Album „Regenballade“, auf dem er deutsche Lyrik folkrockig vertonte, packte mich sofort. Und das bis heute – es vergeht kaum ein Jahr, an dem ich die acht Original-Songs (plus die Bonus-Tracks auf neueren Versionen) nicht mindestens einmal im CD-Player oder auf dem Plattenteller habe.

Je stürmischer, umso stärker denkt man die Songs der Regenballade… Foto: Frank Schümann

Norddeutscher geht’s kaum

Mehr noch: Bestimmte Lebenssituationen sind mit den Liedern mittlerweile vernetzt. Im Urlaub an der See ist die Platte ein Muss. Bin ich bei schlechtem Wetter am Nordsee- oder Ostseestrand und sehe einen Fischer in der Brandung, habe ich sofort „Een Boot is noch buten“ auf den Lippen; stürmt es so richtig, kommt „Trutz Blanke Hans“. Erblicke ich in irgendeinem Garten einen Birnbaum, summe ich – na klar – „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“, und wenn es bei einem Spaziergang durch die Natur plötzlich schüttet, habe ich sofort die Melodie der „Regenballade“ im Kopf – dem einzigen Song auf der Platte übrigens, dem ein zeitgenössisches Gedicht zugrunde liegt.

Als er das Album aufnahm, habe er sich von den Texten absolut inspiriert gefühlt, sagte Reichel später mehrfach – es sei ihm überhaupt nicht schwergefallen, aus den Gedichten Songs zu machen. Und diese Leichtigkeit merkt man den Liedern bis heute an.

„Lewwer duad üs Slaav“

Dabei geht es bei der Mehrheit der Lieder alles andere als leicht und fröhlich zu: Die schon genannten „Een Boot is noch buten“ (von Arno Holz) und „Trutz Blanke Hans“ (Detlev on Liliencron) sowie „Nis Randers“ (Otto Ernst) handeln von der Kraft des Meeres, von den Verlusten auf See und vom Leid der Angehörigen – keine leichte Kost, ebenso wie „Pidder Lüng“, von Liliencrons Ballade über einen mutigen Mann, der sich dem Amtmann entgegenstellt und dafür mit seinem Leben bezahlt. Geboren wird dabei der Spruch: „Lewwer duad üs Slaav“.

Mitfiebern inklusive

Bis heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich das höre – ich fiebere und leide mit dem Fischer mit, bis zum bitteren Ende. Ähnlich bei „Een Boot is noch buten“: bei dem Satz „Und Hinrich, min Hinrich, wo is denn de? Und Jochen wies in die brüllende See“ sehe ich die arme Frau förmlich vor mir. Und wenn es in „Trutz Blanke Hans“ heißt, „heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unten vor 600 Jahren“ bin ich ebenfalls dabei und erlebe, wie am Ende des Songs die Synthieschwaden wie Wellen über die Harmonien brettern.

Leidenschaftlich und nah

Das ist leidenschaftlich, das ist empathisch, das geht nah – und ist nebenbei noch wunderbar vorgetragen. So wie hier müssen gesungene, teils gesprochene Gedichte sein, mit mal herausgepeitschten, mal geflüsterten Sätzen; Reichel bedient die gesamte Klaviatur des gesprochenen, gesungenen Wortes – besser geht’s nicht. Hinzu kommt, dass Achim Reichel, der alle Instrumente selber einspielte, die Dramaturgie der Texte auch musikalisch auf den Punkt genau trifft. Der Kampf von Pidder Lüng gegen den Amtmann wird von treibenden Gitarren begleitet, die „Regenballade“ (der zeitgenössische Text von Ina Seidel) beginnt mit einem unheimlichen Pfeifen und einer fragilen Akustikgitarre. Und dann ist da natürlich auch noch „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“, Theodor Fontanes fantastisches Gedicht über den alten, großzügigen Herrn von Ribbeck, der seinem geizigen Sohn nicht traut. Dieser Song, der am Anfang steht, ist der optimistischste der gesamten Platte – und hat sich tatsächlich bis heute einen gewissen Kult-Status erworben. Mit vollem Recht.

Frank Schümann und Achim Reichel

Ein Bierchen nach dem Auftritt: Treffen mit Achim Reichel nach seinem Konzert im Bremer Aladin im Jahre 2002. Foto: Frank Schaub

Der Nachschlag kam später

Ich selbst sollte Achim Reichel im Laufe der Jahre einige Male auch in echt begegnen. Einmal, Ende der 80er Jahre traf ich ihn auf einem Festival, auf dem er mit den zwischenzeitlich reformierten Rattles auftrat. Ich sprach ihn auf die alte Platte an und fragte ihn, wann er wieder so eine mache. Er konterte: „Dafür brauche ich starke alte Texte – hast Du welche?“ Und lachte. Einige Jahre später gab es tatsächlich eine Art Fortsetzung: Das Album erschien 2002 und hieß „Wilder Wassermann“. Es ist gut, aber ohne die Magie der „Regenballade“.

Denn die ist bis heute: zeitlos.