„Passungsproblem“ und Ausbildungsumlage
Unbesetzte Ausbildungsplätze einerseits, Fachkräftemangel andererseits: Im dualen Ausbildungssystem Bremens gibt es eine Reihe von Problemen. Ein Ausweg soll der Ausbildungsfonds sein.
Von Ulf Buschmann
Die Schule hat Hendrik bald geschafft. Doch was danach kommt, weiß der 17-Jährige bislang noch nicht. Eigentlich würde er gerne etwas Handwerkliches machen – Zimmermann oder Tischler zum Beispiel. Begabung dazu wird ihm immerhin attestiert. Aber mit der Theorie ist es so eine Sache, denn Hendrik steht auf fast allen Fächern mit seinen Leistungen irgendwo zwischen der Note 4 und der Note 6. Mit einem derart schlechten Zeugnis einen Ausbildungsplatz zu bekommen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.
Hendrik ist in diesem Fall eine erfundene Person. Und doch ist er typisch für das, was nach Ansicht von Fachleuten aktuell auf dem Bremer Ausbildungsmarkt zu sehen ist: Einerseits gibt es zu viele Jugendliche und junge Erwachsene ohne Ausbildungsvertrag, andererseits fehlen vor allem dem Handwerk Fachkräfte. Oliver Kriebel, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Bremen, spricht in diesem Zusammenhang von einem „Passungsproblem“. Er stellt fest: „In den letzten zwei Jahren fanden coronabedingt weniger individuelle Maßnahmen an zielführender Berufsorientierung und Beratung von Jugendlichen statt. Immer mehr Jugendliche wissen nicht genau, was sie in ihrem Berufsleben machen wollen, bekommen wenig oder keine individuelle Hilfestellung durch Eltern, Lehrkräfte oder nehmen externe Angebote seltener wahr“, sagt Kriebel.
Mehr Dachdecker und Metallbauer
In nüchternen Zahlen sieht die Situation im Handwerk so aus: Bis 30. September haben der zuständigen Handwerkskammer Bremen 976 Ausbildungsverträge vorgelegen – ein Minus von 2,8 Prozent gegenüber 2021. Doch bei den Zahlen ist laut stellvertretendem Hauptgeschäftsführer das sprichwörtliche letzte Wort noch nicht gesprochen: „Die Handwerkskammer erwartet, bis zum Jahresende 2022 das Vorjahresniveau noch einzuholen und die Vorjahreszahl von insgesamt 1.083 Verträgen zu erreichen.“
Einen genaueren Einblick in die Situation auf dem Handwerks-Ausbildungsmarkt gibt der Fokus auf einzelne Berufsgruppen. Laut Kriebel gibt es gegenüber dem Jahr 2021 mehr abgeschlossene Ausbildungsverträge bei Dachdeckern, Metallbauern und Friseuren. Letztere würden sich nach dem Einbruch durch die Corona-Pandemie „dem Niveau des letzten Nicht-Corona-Jahres 2019“ wieder annähern. Unter anderem Dachdecker und Metallbauer erleben „in der mittelfristigen Betrachtung“ laut Handwerkskammer-Vize-Hauptgeschäftsführer „einen deutlichen Aufschwung“. Probleme haben hingegen „klassische Gewerke“ wie Anlagenmechaniker für Sanitär/Heizung, Tischler und Zimmerer. Hier, so Kriebel, „sind die Ausbildungsverträge rückläufig“ – unter anderem, weil die Anforderungen unter anderem in Mathematik und Physik gestiegen sind.
Zahlen aus Industrie und Handel liegen laut einem Sprecher der Handelskammer für Bremen und Bremerhaven bislang nicht vor. Schuld daran sei der Cyberangriff vor einigen Wochen auf einen Dienstleister des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DITH), den auch die Bremer nutzen. Dort werden unter anderem alle abgeschlossenen Ausbildungsverträge erfasst.
Arbeitnehmerkammer mit anderem Blick
Einen sorgenvollen Blick auf die Lage auf dem Ausbildungsmarkt hat auch die Arbeitnehmerkammer Bremen – und der ist aus ihrer Sicht trotz allgemein beklagten Fachkräftemangels massiv. Hierzu führt die Arbeitnehmerkammer Zahlen des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) an. Dieses hat ausgerechnet, dass im vergangenen Jahr auf 100 sogenannte Ausbildungsinteressierte beziehungsweise Bewerberinnen und Bewerber nur 67 angebotene Lehrstellen kamen.
Viel zu wenig, wie Peer Rosenthal, Geschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen, meint. Das Verhältnis zwischen Ausbildungsinteressierten und angebotenen Stellen sei der „Goldstandard“ zum Messen der Lage in der dualen Berufsausbildung und weise auf eine deutliche Ausbildungsplatzlücke im Land Bremen hin. Die Folgen dieser Unwucht auf dem Ausbildungsmarkt sind gravierend. „Da wächst in unserem Bundesland ein großes soziales Problem auf, während gleichzeitig der Fachkräftenachwuchs fehlt“, sagt Regine Geraedts, Referentin für Arbeitsmarktpolitik der Arbeitnehmerkammer.
Beste Chancen für Abiturienten
Sie und Rosenthal untermauern ihre Ansicht mit weiteren Zahlen des BIBB. Danach bekommen inzwischen in erster Linie Abiturienten einen Ausbildungsplatz – mit entsprechendem Abschluss. Ihr Anteil an den jungen Menschen mit einem neuen Ausbildungsvertrag lag laut Bundesinstitut im Jahr 2019 bei 38,8 Prozent. Somit hätten die Abiturienten „inzwischen sogar die Jugendlichen mit dem Mittleren Schulabschluss überholt“, ergänzt Geraedts. Ihr Anteil an den Neuverträgen lag bei 37,2 Prozent.
Mit sehr deutlichem Abstand folgen Hauptschüler mit lediglich 18,8 Prozent. „Dabei ist es diese Gruppe, die gar keine Alternative zu einer Ausbildung hat“, mahnt Regine Geraedts. Denn kein Berufsabschluss bedeute für viele eine prekäre Zukunft als Ungelernte mit wechselnden Jobs und immer wieder Phasen der Arbeitslosigkeit. Eine weitere Zahl weist auf genau dieses Problem hin: Im Land Bremen stieg der Anteil der jungen Erwachsenen von 25 bis 34 Jahren ohne Berufsabschluss von 18,9 Prozent 2012 auf 23,7 Prozent im Jahr 2019.
Ausbildungsumlage: Ja oder Nein?
Den Ausweg aus der Bremer Ausbildungsmisere sieht zumindest die Regierungskoalition aus SPD, Grünen und Linken in einem Ausbildungsfonds. Die Idee im Groben: Jugendliche und junge Erwachsene sollen Hilfe bekommen, so sie Probleme haben. Aber auch betriebsübergreifende Inhalte, wie Fachpraxis, die im Alltag wenig vorkommen, können gelehrt werden. Bezahlt werden soll dies alles durch eine sogenannte Ausbildungsumlage – eine Idee, gegen die sowohl die Handelskammer als auch die Handwerkskammer Sturm laufen.
Sie haben sich stattdessen bereits im September mit einem Positionspapier dagegen gestellt. Die vier Kernpunkte: Verbesserung der Schulbildung und des Spracherwerbs Jugendlicher, Ausbau von Maßnahmen zur Berufsorientierung, die Optimierung des „Matchings“, das Kriebel als „Passungsproblem“ bezeichnet, sowie die intensivere Nutzung von Instrumenten, die Auszubildende während ihrer Ausbildung unterstützen.
Ob das kategorische Nein der beiden Kammern indes etwas nützt, ist aktuell mehr als fraglich. Hintergrund: Bei einer kürzlichen Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) zum Thema Ausbildung ließen weder der Staatsrat von Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt (Die Linke), Kai Stührenberg, noch der SPD-Landesvorsitzende Reinhold Wetjen Zweifel daran aufkommen, dass es die Ausbildungsumlage noch in dieser Wahlperiode geben werde. Unterstützung kommt dabei vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und von der Arbeitnehmerkammer.
Funktion der Umlage
Es gebe nämlich viele Betriebe und Unternehmen, die nicht selbst ausbilden, sondern die den fertigen Fachkräftenachwuchs abwerben, erläutert Arbeitnehmerkammer-Referentin Geraedts. Das Nachsehen hätten insbesondere kleine Betriebe, die sich engagiert und in Ausbildung investiert haben und am Ende doch ohne die dringend benötigte Fachkraft dastehen. Die Umlage könne die Ausbildungskosten gerechter auf alle Betriebe verteilen: „Heute bildet in Bremen nur gut jeder fünfte Betrieb aus. Mit einem Umlagesystem würden alle Arbeitgeber gemeinsam die Investitionen in die Ausbildung des Fachkräftenachwuchses schultern. Damit verbindet sich auch die Erwartung, dass dies ein Anreiz ist, dass sich wieder mehr aktiv beteiligen.“
Damit kontert die Arbeitsmarktreferentin den Argumenten der Handelskammer und der Handwerkskammer: „Gerade für kleine und mittlere Ausbildungsbetriebe, etwa im Handwerk, bedeutet das eine enorme finanzielle Entlastung. Ihre Ausbildungsinvestitionen werden ihnen zu einem Teil erstattet. Belastet werden nur die, die sich nicht an Ausbildung beteiligen, obwohl auch sie den Fachkräftenachwuchs brauchen, Fachkräfte wollen.“
System wie an den Hochschulen
Aus der Umlage könnte zudem eben jenes Beratungs- und Unterstützungssystem bezahlt werden, das jungen Menschen wie Hendrik hilft, wenn es nötig ist – mit Nachhilfe in einigen oder allen Fächern oder Intensivierung der Fachpraxis, die im Alltag nicht so häufig vorkommt. Aber auch Unterstützung bei Prüfungsangst, bei privaten Problemen oder Reibereien im Betrieb könnte geleistet werden.
„Jede Universität und Hochschule hält ein solches Angebot für Studierende vor, weil klar ist, dass junge Menschen in der Adoleszenz viele Entwicklungsaufgaben zu bewältigen haben und dafür Unterstützung brauchen. Im dualen Ausbildungssystem ist das bisher aber nicht mitgedacht“, erläutert Geraedts. „Dabei würde es den jungen Menschen und den Betrieben gleichermaßen helfen, auf gutem Wege miteinander zum Ausbildungserfolg zu kommen.“