Mama auf Zeit
Nicole Radatz vom Kinderheim „Kleine Strolche“ umsorgt vernachlässigte Babys. Mit Ylvi und Blanka verknüpft sie ein besonderes Band.
Von Daniela Krause
„Oh Gott, ist sie klein und zierlich“ – das war ihr erster Gedanke, als sie Ylvi sah. Erzieherin Nicole Radatz war 2013 im Namen des Kinderheims „Kleine Strolche“ mit einer Dame vom Jugendamt in eine Hamburger Klinik gekommen, um das Baby in Obhut zu nehmen. Ylvi war von ihrer drogenabhängigen Mutter im Krankenhaus zurückgelassen worden. Die Kleine hatte eine Gaumenspalte, musste aufgrund ihres fehlenden Schluckreflexes über eine Magensonde ernährt werden. Die Diagnose der Ärzte lautete zudem: Fetales Alkoholsyndrom.
Ein halbes Jahr lang war Ylvi im Krankenhaus versorgt worden, bis sie umziehen durfte. Nicole Radatz, die sich dem Baby als „Mama auf Zeit“ annahm, erinnert sich: „Die ersten Nächte waren ein echtes Abenteuer, da die Kleine sich ständig selbst die Nasensonde herauszog. Ylvi schlief außerdem sehr viel. Ich merkte, dass sie dadurch ganz viel nachholte. Bald wurde sie ein offenes, fröhliches, agiles kleines Mädchen und hat gezeigt, was in ihr steckt.“ Schon beim ersten Mal auf den Arm nehmen, hatte Nicole Radatz gespürt: „Irgendwie verstehen wir uns und mögen wir uns.“
„Liebe auf den ersten Blick“
Dennoch stand ziemlich schnell fest, dass für Ylvi eine Pflegefamilie gefunden werden sollte. Denn zum verantwortungsvollen Job der Erzieherin gehört auch, sich von den Kindern irgendwann zu verabschieden, um mit ganzer Kraft für das nächste vernachlässigte Baby da sein zu können. Als Ylvi nach einem halben Jahr ihre Pflegefamilie kennenlernte, sei es „Liebe auf den ersten Blick“ gewesen. Die Kinder der potentiellen Pflegeeltern waren schon groß. „Die Pflegeeltern hatten ausdrücklich den Wunsch geäußert, ein Kind aufzunehmen, dass besonders viel Unterstützung brauchen würde.“
Als der Abschied kam, war Nicole Radatz traurig. „Ylvi war das erste Baby, dass ich rund um die Uhr auf diese Art betreut hatte. Aber dadurch, dass ich die Pflegeeltern sehr nett fand, hatte ich ein lachendes und ein weinendes Auge“, sagt sie. Meistens ist es so, dass der Kontakt zu den ehemaligen Schützlingen nach dem Umzug abbricht – zum einen, weil die neue Familie zur Ruhe kommen, zum anderen weil ein neuer „kleiner Strolch“ umsorgt werden möchte. Die Pflegeeltern wünschten sich jedoch, dass Nicole Radatz weiterhin in Ylvis Leben präsent bleibt.
Immer mehr Besuche
Ursprünglich hatten wir angedacht, uns zu Geburtstagen und an Weihnachten zu treffen. „Daraus wurden dann immer mehr Besuche“, sagt die 35-Jährige lachend. „Ylvi freute sich jedes Mal, wenn ich kam. Ganz egal, wie lange wir uns zwischendurch nicht gesehen hatten.“ So wurde der Kontakt wieder enger. Und dann kam der Tag, an dem Ylvi sie fragte: „Möchtest du meine Patentante werden?“ Im ersten Moment habe sie wie ein „verdattertes Auto“ geguckt, erzählt Nicole Radatz. „Dann habe ich es realisiert und mich gefreut.“
Leibliche Mutter spurlos verschwunden
Ylvi hat bei ihrer Pflegefamilie ein liebevolles Zuhause gefunden. Sie weiß, dass sie ein Pflegekind ist. „Damit wird in der Familie bewusst offen umgegangen“, sagt Nicole Radatz. Ihre Pflegeeltern möchten die Neunjährige nun gerne adoptieren, dafür braucht es jedoch die Einwilligung der leiblichen Mutter. Diese wurde allerdings nur noch zweimal in der Hamburger U-Bahn gesehen – danach verliert sich ihre Spur. „Manchmal fragt Ylvi nach ihrer biologischen Mutter. Ihre Pflegemama hat ihr gesagt, wenn man bei jemandem ganz tief im Herzen sitzt, dann ist es wie das eigene Kind.“
Mein Beweggrund ist, den Kindern das Bestmögliche zu geben, das sie verdient haben. Sie können nichts für ihre Situation. Ihnen muss geholfen werden.
Und die Geschichte ist noch nicht zu Ende: Weihnachten 2018 war Nicole Radatz bei Ylvi und ihrer Familie zu Besuch. Sie kam aber nicht allein: „Zu der Zeit habe ich mich um Baby Blanka gekümmert, die aus einer schweren Verwahrlosung gerettet worden war. Sie war ganz klein und zierlich, genau wie Ylvi damals.“ Blanka habe an diesem Abend die Herzen im Sturm erobert. „Wir haben rumgespaßt, dass sie doch auch Blanka bei sich aufnehmen könnten.“ Ein zweites mögliches Pflegekind sei zuvor schon Thema gewesen. „Ein paar Tage später wurde aus dem Spaß dann Ernst. Das Jugendamt rief an: Man habe noch keine passende Familie gefunden und wolle die Suche auf bundesweit ausdehnen. Da klingelten bei uns natürlich die Ohren…“
Das erste eigene Kind
Und so kam es, dass Ylvi und Blanka (3) nun als Geschwister in der gleichen Familie aufwachsen – mit derselben Patentante an ihrer Seite. Anfangs hat Ylvi Blanka sehr behütet“, berichtet Nicole Radatz. „Mittlerweile lieben und hassen sie sich wie ganz normale Geschwister. Im einen Moment fliegen die Fetzen, im nächsten schauen sie sich gemeinsam ein Buch an.“ Dass sie noch ein weiteres Mal Patentante werden würde, habe bereits festgestanden, als Blanka umgezogen sei. Derzeit pausiert Nicole Radatz bei den „Kleinen Strolchen“, weil Sie im Juni 2023 ihr eigenes erstes Kind erwartet. Wie es dann weitergehe, stehe noch in den Sternen.
Das Kind hat es gut bei mir, und ich kann ihm etwas mitgeben.
Klar ist für die Erzieherin, dass sie in ihrer Arbeit Erfüllung findet: „Mein Beweggrund ist, den Kindern das Bestmögliche zu geben, das sie verdient haben. Sie können nichts für ihre Situation. Ihnen muss geholfen werden.“ Gemeinsame Spaziergänge mit den Eltern helfen wiederum ihr dabei, zwischendurch runterzukommen. Dass ihre kleinen Schützlinge oft aus der Verwahrlosung geholt werden, häufig seelischen und körperlichen Missbrauch erlebt haben, versucht Nicole Radatz so gut wie möglich auszublenden: „Wir sind im Hier und Jetzt. Das Kind hat es gut bei mir, und ich kann ihm etwas mitgeben.“ Das ist ihr Antrieb und der Grund dafür, weshalb sie im kommenden Jahr schon 14 Jahre lang für die „Kleinen Strolchen“ im Einsatz ist.
Kinderheim „Kleine Strolche“
Das Kinderheim „Kleine Strolche“ in Asendorf wurde 2008 gegründet. Es ist eines der wenigen Häuser in Deutschland mit Spezialisierung auf schwer traumatisierte und medizinisch herausfordernde Kinder. Heute stehen rund 70 Plätze zur Verfügung, wo in Obhut genommene Säuglinge und Babys zur Ruhe kommen, Geschwistergruppen sich zusammen sicher fühlen, seelisch erkrankte Kinder einen familienanalogen Ort zum Aufwachsen finden oder Mütter mit ihren Kindern gemeinsam begleitet und unterstützt werden. Das Therapiezentrum auf dem Rittergut Ovelgönne wird privat finanziert und ist auf Spenden angewiesen.
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