Die Fremdelnden

Die Stadt Bremerhaven rühmt sich, die freieste Verfassung Deutschlands zu haben. 75 Jahre lang bildet sie zusammen mit Bremen das kleinste Bundesland – es ist noch immer ein Zustand des Fremdelns.

Von Ulf Buschmann

Wilhelm Kaisen muss ziemlich plietsch gewesen sein. Und hartnäckig obendrein. Dies zumindest sagt die Legende über die Verhandlungen zur Bildung eines eigenen Landes Bremen nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf bremischer Seite spielte Wilhelm Kaisen die Hauptrolle – kein Wunder, war er doch von der amerikanischen Besatzungsmacht zuerst als Bürgermeister eingesetzt worden und bei der ersten Wahl nach der Kapitulation quasi bestätigt worden. Wilhelm Kaisen war bei den Bremern beliebt.

Aber der Bremer Bürgermeister war eben auch ein harter Verhandler. Der Legende nach soll er den Amerikanern bei der Frage des Zuschnitts eines neuen Landes Bremen Bremerhaven durch geschickte Winkelzüge abgerungen haben. Zwar bilden die beiden Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven seit 75 Jahren das Bundesland Bremen. Doch Bremerhaven hat nie aufgehört, damit zu fremdeln. Es ist so etwas wie eine Vernunftehe – oder etwas weniger.

Containerterminal Bremerhaven mit hochgezogenen Verladebrücken.

Das Containerterminal ist Teil der stadtbremischen Häfen in Bremerhaven. Foto: Ulf Buschmann

Die Häfen gehören Bremen

Der Ausdruck dessen sind die Strukturen und Konstrukte, die es in dieser Form in keinem anderen Bundesland gibt. So hat der Stadtstaat keine Landespolizei, sondern zwei voneinander unabhängige Ortspolizeibehörden – wenngleich auch die Bremer landeshoheitliche Aufgaben wahrnehmen. Auch sonst arbeiten die Bremerhavener Behörden weitgehend unabhängig von denen in Bremen. Deutlich wurde dies in der Corona-Pandemie: Während in den anderen Bundesländern die Flächenstaaten die Anzahl der Erkrankten, Genesenden und Toten fürs Land meldeten, gab es für die Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven stets separate Werte.

Besonders schräg wird es beim Blick auf die Häfen. Vor allem deshalb, weil sich das pralle Leben nicht in Bremen, sondern in Bremerhaven abspielt. Vermeintlich! Wer nämlich glaubt, das Containerterminal Bremerhaven und das Autoterminal gehörten zu Bremerhaven oder seien gar Landeshäfen, hat sich getäuscht: Sie sind stadtbremische Häfen. Somit fließen die Einnahmen aus dem Hafenbetrieb nicht in die Kassen Bremerhavens, sondern 60 Kilometer flussaufwärts nach Bremen.

Dass die Bremerhavener mit diesem zugegebenermaßen ungerechten Zustand seit nunmehr 75 Jahren hadern, ist sicherlich nachvollziehbar. Immerhin ist in den vergangenen 20 Jahren etwas Bewegung in die Gebietsfrage gekommen: Bremerhaven bekam das touristisch interessante Areal am Alten Hafen von Bremen. Doch dieses musste sich Bremerhaven erst zu einem Filet zubereiten, während die fertigen und einträglichen (Hafen-) Teile bis heute der Stadtgemeinde gehören.

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Blick in die Geschichte

Warum es diese wohl weltweit einzigartige Konstruktion gibt, erklärt der Blick in die Geschichte. Das eigentliche Bremerhaven war der schmale Streifen an der Wesermündung, den die Stadt Bremen 1827 auf Betreiben von Bürgermeister Johann Smidt vom Königreich Hannover erworben hatte. Dieser Streifen neuen bremischen Gebietes erstreckte sich von der Weser entlang des nördlichen Geeste-Ufers bis hinter die Bürgermeister-Smidt-Gedächtnis-Kirche – sie ist übrigens auch ein Ausdruck der besonderen landesbremischen Verhältnisse: Die Vereinigte Protestantische Gemeinde zur Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche, so der offizielle Name, gehört als einzige Bremerhavens zur Bremischen Evangelischen Kirche (BEK); alle anderen gehören zur Hannoverschen Landeskirche.

Blick aui den Alten Hafen Bremerhaven und die Havenwelten.

Der Alte Hafen ist der Kern Bremerhavens. Heute erstrecken sich dort die Havenwelten. Foto: Hannes Grobe/CC BY 3.0

Smidt und mit ihm der Senat sahen sich zum Deal mit den Hannoveranern gezwungen, um den Anschluss an den internationalen Handel, der wirtschaftlichen Grundlage Bremens, nicht zu verlieren. Denn die Weser versandete immer mehr. Deshalb konnten größere Schiffe den Hafen an der Schlachte nicht mehr erreichen. Wie bereits rund 200 Jahre zuvor in Vegesack, mussten die Bremer einen Vorhafen bauen lassen, wo die Waren auf die Weserkähne umgeladen werden konnten. Der neue Ort erhielt hanseatisch-zweckmäßig den Namen Bremerhaven.

Durch den Amerikahandel und durch die um 1832 einsetzende Massenauswanderung in die Neue Welt entwickelte sich Bremerhaven rasch. Dem wollten die Hannoveraner nicht tatenlos zusehen – sie ließen ab 1845 den bislang bestehenden dortigen Nothafen an der Geeste erweitern und gründeten bis 1847 den Ort Geestemünde, der schon 1856 bis 1863 erweitert werden musste. Die Stadt entwickelte sich nach englischem Vorbild zum Industriestandort mit Dock- und Hafenanlagen sowie direktem Eisenbahnanschluss.

Luftbildaufnahme Bremerhavens mit dem Weserbad im Vordergrund und der Geeste im Hintergrund.

Bremerhaven von oben gesehen. Im Vordergrund ist der alte Hafen zu sehen. Foto: flo51vogt/Pixabay

Siedlungsraum für 100.000 Menschen

Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 war mit Bremerhaven und Geestemünde ein Siedlungsraum mit rund 100.000 Menschen entstanden. Doch weder die eine noch die andere Kommune konnte sich räumlich weiter ausdehnen – Bremerhaven war bremisch, Geestemünde inzwischen preußisch. Immerhin gab es jenseits der Bremerhavener Grenze diverse Eingemeindungen, sodass daraus 1920 die Stadt Wesermünde wurde.

Tabula rasa machten erst die Nationalsozialisten mit dem „Gesetz über den Neuaufbau des Reichs“ vom 30. Januar 1934. In der zugehörigen Vierten Verordnung über den Neuaufbau des Reichs vom 28. September 1939 wird in Paragraf 1 festgelegt: „Die Stadt Bremerhaven wird aus dem Lande Bremen aus- und in das Land Preußen (Provinz Hannover) sowie in die Stadt Wesermünde eingegliedert. Die Aufsichtsbehörde trifft Bestimmungen über die Regelung der neuen Verwaltung. Und: „Das nach § 4 der Verordnung über die Einführung der Deutschen Gemeindeordnung in den Gemeinden des bremischen Landesgebiets vom 30. März 1938 (RGBl. I. S. 343) zum Gemeindebezirk Bremen gehörende Hafengelände führt den Namen Bremerhaven.“ Heißt: Das Überseehafengebiet verblieb bei Bremen.

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Besitzstandswahrer Kaisen

Diesen für Bremen aus wirtschaftlicher Sicht sehr einträglichen Zustand wollte Bürgermeister Kaisen verständlicherweise in die Zeit nach den Nationalsozialisten hinüberretten. Dieses Ziel machte die ohnehin nicht einfachen Verhandlungen über den künftigen Status Bremens nicht gerade einfacher. Schließlich war das Konstrukt drumherum schon kompliziert genug.

Am Autoterminal Bremerhaven wird ein Auto verladen.

Autoverladung in Bremerhaven: DasTerminal und der Hafen gehören der Stadt Bremen. Foto: Ulf Buschmann

Eigentlich gehörten Bremen und Wesermünde zur britischen Besatzungszone. Doch die Amerikaner, deren Zone im Süden des Landes lag, benötigten einen Seehafen. Zu diesem wurde Bremen auserkoren. So kam es schon 1945 je nach Sichtweise zur amerikanischen Ex- oder Enklave Bremen. Doch die Diskussionen darüber, wie und ob es überhaupt einen Stadtstaat Bremen geben sollte, zogen sich hin. Bereits im Oktober 1945 hatte der Oberpräsident der preußischen Provinz Hannover, Hinrich Kopf, bei einem Treffen mit Bremens Bürgermeister Wilhelm Kaisen vorgeschlagen, die Unterweserstadt solle sich Niedersachsen anschließen.

Kaisen lehnte ab und musste sich in den kommenden Jahren immer wieder Versuchen Hannovers erwehren, die nur allzu gerne das Zepter in Bremen in die Hand genommen hätten. Dies geschah teilweise mit, teilweise ohne Wissen der Briten. So stellten die Hannoveraner Anfang 1946 die in der Hansestadt ansässigen Reichsmittelbehörden wie das Landesarbeitsamt und die Oberfinanzdirektion oder auch das Landesernährungsamt unter ihre Fittiche – vergebens. Die Lage Bremens war denn auch lange Zeit ungeklärt – somit auch die Bremerhavens.

Die Bürgermeister Wilhelm Kaisen und Johann Smidt.

Die Bürgermeister Wilhelm Kaisen und Johann Smidt. Fotos: Senatspressestelle Bremen/CC BY-SA 2.0 de, Focke-Museum Bremen/Gemeinfrei

Amerikaner versus Briten

Im Sommer 1946 kam wieder Bewegung in die Diskussion über die territoriale Neuordnung im Nordwesten Deutschlands. Die Briten wollten ihre Besatzungszone in vier Länder aufteilen. Eines davon sollte sich Niedersachsen nennen und beinhaltete die beiden Städte Bremen und Bremerhaven sowie Wesermünde, dessen Zuordnung auch noch nicht geklärt worden war.

Doch mit dem britischen Vorstoß wollten sich die Amerikaner nicht abfinden und hielten in einem Memorandum dagegen, dass Bremen als eigenständiges Land etabliert werden solle. Dieses Ziel bekräftigte der Direktor der Bremer Militärregierung, Colonel Browning, nochmals im Rahmen der Interzonenkonferenz im Oktober 1946 in der Hansestadt. Im gleichen Monat befasste sich der Senat mit dem Zuschnitt des neuen Landes. Dafür hatten die Gouverneure der britischen und amerikanischen Besatzungszonen im Zuge der Bildung des Landes Niedersachsen zum 1. November 1946 bereits eine Empfehlung abgegeben.

Skyline Bremerhaven.

Heute hat Bremerhaven eine moderne Skyline. Foto: Ulf Buschmann

Bremen sortiert sich neu

So sollte das Land Bremen aus der Stadt Bremen inklusive der 1939 eingemeindeten Orte plus Bremerhaven und Wesermünde bestehen. Bremen sortierte sich gebietstechnisch also neu – auch an der Wesermündung. Der Stadtkreis Wesermünde schied zum 31. Dezember 1946 aus dem Land Niedersachsen aus – jedoch nicht, ohne vorher seine Bürger darüber abstimmen zu lassen, wohin es sie zieht. Die Wesermünder sprachen sich für die Zugehörigkeit zu Bremen aus.

Zum 1. Januar 1947 wurden Bremen, Bremerhaven und Wesermünde als Staat im amerikanischen Kontrollgebiet ausgerufen. Der Senat fungierte als provisorische Staatsregierung. Im Februar 1947 vollzogen die Besatzungsbehörden die Eingliederung Wesermündes nach Bremen. Außerdem beschloss die Stadtvertretung Wesermündes, aus zwei eines zu machen: Bremerhaven und Wesermünde vereinigten sich zur Stadt Bremerhaven in ihren heutigen Grenzen.

So steht es in der Bremischen Landesverfassung, die am 21. Oktober 1947 rückwirkend zum 1. Januar in Kraft trat. Bremerhaven feiert in diesen Tagen den 75. Geburtstag seiner Stadtverfassung. Seitdem gibt es immer wieder Zweifel daran, zu Bremen zu gehören. So waren einer Umfrage zufolge 2017 laut WESER-KURIER 51 Prozent der Befragten für eine Fusion mit Niedersachsen. Vor allem den jungen Bremern sei es egal, ob Bremen ein eigenständiges Bundesland ist. In Sachen Bremerhaven zitiert das Blatt den emeritierten Politikwissenschaftler Lothar Probst: „Es gibt in Bremerhaven das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein.“