Es ist kein Buch über Autismus

Die Bremer Autorin Anna Irmgard Jäger hat ein inklusives Kinderbuch über ihren Sohn Paul mit Autismus-Spektrum geschrieben. Die Illustrationen stammen aus der Feder von Florian Bosum.

Von Daniela Krause

Als Paul anderthalb Jahre alt war, setzte innerhalb von sechs Wochen seine Sprache aus. Heute ist er zwölf Jahre alt und kommuniziert auf seine ganz eigene fantasievolle Weise. Pauls Mutter Anna Irmgard Jäger erzählt seine Geschichte in ihrem inklusiven Kinderbuch „Was sieht Paul?“, das im Marta Press Verlag erschienen ist. Ihr Partner Florian Bosum, der das Zeichnen und Illustrieren an der Hochschule für Künste (HfK) Bremen studierte und als Musiker „Flo Mega“ bekannt geworden ist, hat Pauls Wesen in Bildern festgehalten. Im Interview sprechen die beiden über Pauls besondere Sicht auf die Welt und laden dazu ein, einfach mal die Perspektive zu wechseln.

Ihr Sohn beziehungsweise Stiefsohn Paul hat den Ausschlag für dieses Kinderbuch gegeben. Welche Kernbotschaft möchten Sie darin vermitteln?

Anna Irmgard Jäger: Die Kernbotschaft unseres Buches ist: Du bist richtig, so wie du bist. Wir finden einen Weg, miteinander zu kommunizieren, auch wenn keine Sprache da ist. Es ist unser Beitrag zu einer inklusiveren Welt. Aber, und das ist ganz wichtig zu wissen: Es ist kein Buch über Autismus, sondern es ist unsere Geschichte über und mit Paul.
Florian Bosum: Wir verstehen das Buch als Chance, auch wenn die Gesellschaft gerade aufgrund der aktuellen Ereignisse offener für das Thema Autismus wird, die Menschen zu sensibilisieren. Dafür diese künstlerische Variante in Form eines Kinderbuches zu wählen, lag für uns auf der Hand. Wir arbeiten künstlerisch und Paul hat ein künstlerisches Wesen – das hat uns inspiriert.

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In das Buch fließt ganz viel aus Ihrem täglichen Leben ein. Inwiefern unterscheidet sich Ihr Familienalltag von dem anderer Familien?

Anna Irmgard Jäger: Unterscheiden gar nicht mal so sehr. Wir haben ja nur diese eine Realität. Was für unsere Familie vielleicht besonders ist: Wir sind eine Patchworkfamilie. Der Papa von Paul und ich leben seit acht Jahren getrennt, wohnen aber in einem Haus zusammen. Flo ist vor fünf Jahren dazu gezogen, und Paul ist eine Woche bei mir und eine Woche bei seinem Papa, wofür er nur den Flur wechseln muss. Wir sind ein lebendiger Innenhof. Alle Nachbarinnen und Nachbarn kennen sich untereinander und haben einen achtsamen Blick auf Paul, aber auch auf alle anderen Kinder, die hier wohnen.
Florian Bosum: Anna hat einen ganz speziellen Umgang mit Paul, und ich habe auch einen guten Draht zu ihm. Wir haben uns sehr lieb und brauchen uns. Was bei Paul anders ist: Man kann ihm nicht sagen: „Wenn du das und das machst, hat das Konsequenzen.“ Oder: „Geh mal lieber nicht da hin.“ Er ist nicht so leicht zu erreichen wie andere Kinder und kann nicht immer ausdrücken, was ihm fehlt. Er ist auch schon einmal weggelaufen, was für uns sehr schrecklich war. Wir leben mit anderen Ängsten. Man muss Vermutungen anstellen, eine ganz spezielle Art der Kommunikation erfüllen und ganz viel interpretieren. Die Kommunikation mit Paul ist sehr fantasievoll.

Ich denke da gerade an die Szene im Buch: Wenn jemand Paul begrüßen möchte, formt man mit den Händen eine Schale, damit er sein Kinn hineinlegen kann. Funktioniert die Kommunikation bei Ihnen viel über solche Gesten?

Anna Irmgard Jäger: Ja, unter anderem über Gesten. Man hat täglich kleine Rätsel zu lösen. Dadurch, dass man oft nicht weiß: Warum weint er? Warum lacht er? Was könnte er jetzt gerade brauchen? Um diese Rätsel zu knacken, sind wir auf unsere Kreativität angewiesen. Und genau die kann auch manchmal der Schlüssel sein. So wie die eben beschriebene Geste, die übrigens von Mitschülern von Paul entwickelt wurde, weil sie ihn begrüßen wollten und das „Hallo“ durch seine Nonverbalität nicht möglich war. Das war ein kreativer Prozess und hat sehr gut geklappt.

Wie lässt Sie Paul Ihre Umwelt wahrnehmen beziehungsweise was haben Sie erst durch Paul entdeckt oder gelernt?

Anna Irmgard Jäger: Durch Paul sehe ich die Welt kreativer und fantasievoller. Ich bin geduldiger geworden mit der Welt und mit mir. Paul ist jemand, der die Dinge und die Momente sehr lange würdigt. Es gibt Zeiten, da guckt er stundenlang aus dem Fenster und beobachtet die Äste. Das ist sehr inspirierend. Wir leben ja auch in einer Zeit, in der wir viel nach Ruhe suchen, nach Achtsamkeit streben, versuchen zu meditieren, Yoga zu machen. Paul lebt uns vor, wie es funktionieren kann.
Florian Bosum: Ja, genau. Und zwar ohne es zu glorifizieren. Das ist das, was er mitbringt. Seine Tools, die er hat, um zu überleben, um sich den Reizen zu entziehen, die oft zu viel für ihn werden. Gerade dann, wenn wir Erwachsenen uns mit Bullshit befassen müssen, und dann kurz zur Ruhe kommen und ihn beobachten, dann fragt man sich schon: Was hab ich da eigentlich gerade gemacht? Weil er eben grundsätzlich keine Anhaftung hat. Status? Mehr, weniger? Besser, schlechter? Das sind Dinge, die ihn nicht interessieren. Und er tut das, wonach ihm gerade ist.
Anna Irmgard Jäger: „Knigge ist egal“, sagen wir gerne. Der spielt bei uns keine Rolle. Das ist auch ganz angenehm.

Anna Irmgard Jäger und Florian Bosum kennen die Codes, mit denen Paul kommuniziert. Ihr Kinderbuch „Was sieht Paul?“ lädt Kinder und Erwachsene ein, sich in Pauls Leben mit Autismus-Spektrum hineinzuversetzen. Foto: Ina Seyer

Wie hat Paul reagiert, als Sie ihm das Buch zum ersten Mal vorgelesen haben? Hat er sich darin wiederentdeckt?

Anna Irmgard Jäger: Ich habe ihm schon bevor das Buch fertig war, die Zeichnungen gezeigt. Und ich glaube, ein ganz empowernder Moment für ihn war, als er sich in den Zeichnungen mit den großen, spitzen Ohren wiedererkannt hat. Ich glaube, er hat sofort verstanden, dass er das ist. Eines der wenigen Wörter, die er sagen kann, ist nämlich „Fuchs“. Der Wüstenfuchs war die Inspiration und natürlich Pauls Hörqualität – das steckt hinter den Ohren. Ich glaube, er hat sich tierisch gefreut, sich zu sehen, denn als ich ihm das Buch das erste Mal vorgelesen habe, hat er ganz verschmitzt gelächelt. Er fährt mit dem Finger die Zeichnungen und Buchstaben nach. In sein eigenes Buch darf er auch reinschreiben oder die Buchstaben anmalen wie er mag und es nach seinen Wünschen und Ideen weitergestalten.

Sie haben gerade die Ohren angesprochen. Als ich das Buch meiner Tochter vorgelesen habe, war das die erste Frage: „Warum hat Paul solche Ohren?“ Ich habe ihr erklärt, dass Paul wahrscheinlich ein sehr feines Gehör hat und die Welt viel intensiver wahrnimmt. Liege ich mit dieser Antwort richtig?

Anna Irmgard Jäger: Ich finde es schön, dass es das Denken anregt, warum das mit den Ohren wohl so ist. Ich mag den Prozess dahinter und vor allem, den Menschen zu begegnen: Was ist das für ein Merkmal? Was könnte das bedeuten? Und das ganz wertfrei zu betrachten. Für uns war das eine Zuspitzung oder Erweiterung dieser auditiven Qualität, die da ist, und auch der Hypersensibilität. Sowohl Paul als auch ich haben im Buch diese spitzen Ohren – daran angelehnt, dass „Fuchs“ eines der ersten Wörter war, die Paul gesprochen hat, und in meinem Roman „Ganz normale Tage – Geschichten von Träumen und Traumata“ ist das Kind der Hauptfigur Erika ein Wüstenwuchs. So ist alles miteinander verwoben.

Herr Bosum, Sie haben das Buch illustriert. Was war Ihnen bei der Gestaltung besonders wichtig?

Florian Bosum: Mir war sehr wichtig, Pauls Wesen zu erkennen. Ich habe viel um die Ohren, und es war manchmal schwierig, das Zeichnen in den Alltag zu integrieren. Es hat mir aber mega Spaß gemacht. Die Bilder sind auf dem Zeichenbrett und auf Aquarellpapier ganz stimmungsabhängig entstanden. Manchmal habe ich unter Hektik gearbeitet, manchmal mit einer sehr großen Ruhe, deshalb sind die Seiten und Striche verschieden. Mir ging es darum, schnell zu verstehen, wie ich Paul zeichnen kann, so dass ich ihn auch immer wieder spüre, wenn ich ihn zeichne. Es war ein wichtiger Prozess, ihn nochmal auf diese Art kennenzulernen. Mir ging es da nicht um Perfektion, sondern darum, Paul zu verstehen. Denn während des Zeichnens habe ich nochmal anders über ihn nachgedacht.

Zu welchem Ergebnis sind Sie dabei gekommen? Wie würden Sie Pauls Charakter beschreiben?

Anna Irmgard Jäger: Paul ist in erster Linie humorvoll. Er lacht sehr viel mit sich alleine. Da würde ich gerne mal in seinen Kopf gucken können, was da so abgeht. Außerdem ist er sehr detailverliebt.
Florian Bosum: Er ist sehr künstlerisch und gerade in einer Phase, in der er Hieroglyphen malt – und das überallhin, wie man zum Beispiel am Tisch sieht. Er ist sanftmütig, hat eine schöne Intelligenz und auch eine gewisse Weisheit. Ich mag seine feine, verschmitzte Art. Es ist alles codiert, und wir kennen die Codes.

In Ihrem Buch laden Sie dazu ein, mitzumachen. Zum Beispiel: „Wenn er sich die Ohren zuhält, kann er dem Rauschen in seinen Ohren sehr gut lauschen. Probier es mal aus.“ Helfen diese kleinen Übungen dabei, Paul beziehungsweise Autismus im Allgemeinen besser zu verstehen?

Anna Irmgard Jäger: Auf jeden Fall. Und nicht nur Autismus, sondern generell, sein Gegenüber besser zu verstehen. In dem Fall ist es bezogen auf Paul und war auch für mich eine Herangehensweise, als die Diagnose im Raum stand, diese als solche und mein Kind besser zu verstehen in all seiner Vielfältigkeit. Es geht darum, sich anzunähern und auch mal in den Schuhen des anderen zu laufen.

Wenn Paul seiner Mama zeigen möchte, wie lieb er sie hat, drückt er gerne sein Kinn an ihres. Illustration (Ausschnitt): Martha Press Verlag, Florian Bosum

Ist es durch Ihre Lesereise mit dem Kinderbuch schon zu besonderen Erlebnissen gekommen?

Florian Bosum: Ich finde die Lesungen in den Schulklassen und Kindergärten sehr bereichernd. Die Reaktionen von den Kindern sind süß und lustig. Es sind oft diese kleinen Momente.
Anna Irmgard Jäger: Ich komme zum Beispiel gerade von einer Lesung in der Grundschule, und es ist schön, die Perspektive der Kinder auf die Fragen zu hören. Das ist unser kleiner Beitrag zur Inklusion.

Nehmen Kinder die Thematik anders wahr als Erwachsene?

Anna Irmgard Jäger: Das Spannende ist: Bei den Kinderbuchlesungen sage ich nicht vorab: Es geht um Autismus. Sondern ich erzähle erstmal die Geschichte. Und manche Kinder erkennen sich vielleicht selbst wieder und merken ob sie im Autismus Spektrum sind oder nicht. Oder sie kennen jemanden, auf den die Beschreibung zutrifft.
Florian Bosum: Stimmt, da war ein Kind dabei, das sich sehr verstanden gefühlt hat und uns erzählt hat, dass es total auf Fahrstühle steht auf die Frage „Wen hast du ganz doll lieb?“. Da wurde gelacht, aber nicht ausgelacht, sondern herzlich und verständnisvoll. Und für die Betroffenen ist es ja auch ein sehr schönes Gefühl, gleich von mehreren Personen auf einmal verstanden zu werden und sich nicht mehr in irgendeiner Form maskieren zu müssen. Das war auf jeden Fall eines unserer bisherigen Highlights.

Was liebt Paul? Womit kann man ihn glücklich machen?

Anna Irmgard Jäger: Haushaltsclipper! Deshalb sind die in dem Buch auch ein großes Thema. (Ergänzung durch die Redaktion: In dem Buch wird zum Beispiel erwähnt, dass Paul mit einem Haushaltsclipper Rosen hält, um sich nicht an den Dornen zu stechen). Er mag aber auch gerade Sticker gerne.
Florian Bosum: Ansonsten kann man ihn auch mit bestimmten Liedern glücklich machen. Es ist glaube ich generell das, was man aussendet: wenn man sich freut, ihn zu sehen

Herr Bosum, Sie haben in einem Interview gesagt, die Zielgruppe für das Buch ist von 0 bis 99. Also, alle sollten dieses Buch lesen?

Anna Irmgard Jäger: Und über 100!
Florian Bosum: Ja, es ist wirklich ein Buch für alle.
Anna Irmgard Jäger: Genauso wie Inklusion ja auch alle betrifft und nicht eine Zielgruppe.

Planen Sie ein weiteres Kinderbuch?

Anna Irmgard Jäger: Es ist kein zweiter Teil geplant. Aber ein zweites Kinderbuch befindet sich in der Entstehung. Die Geschichte ist schon fertig. Die Bilder kommen noch.

Anstehende Lesungen

Anna Irmgard Jäger und Flo Mega stellen ihr Kinderbuch „Was sieht Paul?“ am 6. September um 16 Uhr im Rahmen von „Bremen liest“ vor. Lesungsort ist der Buchladen Ostertor. Kindergärten und Schulen, die darüber hinaus Interesse an einer Lesung haben, dürfen sich gerne bei Anna Irmgard Jäger melden per E-Mail an anna_jaeger87@web.de.

Das Buch „Was sieht Paul?“ ist im Marta Press Verlag mit der ISBN 978-3-968370-22-4 erschienen, ist 40 Seiten stark und kostet 18 Euro.

Über Autismus?

Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus bzw. Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken.

Quelle: autismus Deutschland e.V. Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus

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