Mit dem Ohr am Eigenheim
„Trautes Heim, Glück allein“ – die Regisseurin Katrin Bretschneider hat für das KulturHaus Müller einen Audiowalk in Ganderkesee realisiert. Es geht um Sicherheit, Sehnsüchte, Sorgen und tiefe Einblicke ins Einfamilienhaus.
Von Daniela Krause
„Möööhh!“, macht es plötzlich laut. Mein Kollege Ulf Buschmann und ich zucken leicht zusammen und lachen. „Huch! Ich dachte gerade, da steht ein Schaf neben mir!“ Und so wie in diesem Moment geht es uns bei dem Hörspaziergang durch das Ganderkeseer Wohngebiet noch einige Male. Schuld daran ist die „binaurale Aufnahmetechnik“. Dabei entsteht ein natürlicher Höreindruck, bei dem Klänge und Geräusche räumlich wahrnehmbar sind; ein Kinofilm für die Ohren, wobei das Gesehene vor Ort in die Wahrnehmung mit einfließt. Manchmal schließt man aber auch bewusst die Augen, damit die Fantasie freieres Spiel hat. Und auf einmal steht da ein imaginäres Schaf!
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Trautes Heim, Glück allein
Um Schafe geht es bei dem neuesten Audiowalk der Bremer Autorin, Produzentin und Regisseurin Katrin Bretschneider aber gar nicht, sondern um das, was wir Menschen mit dem Einfamilienhaus verbinden und welche Assoziationen es in uns auslöst. Der knapp 60-minütige Audiowalk „Trautes Heim, Glück allein“ ist eine Gemeinschaftsproduktion Bretschneiders mit der Berliner Sounddesignerin Ilona Marti und Oliver Behnecke, dem Leiter des KulturHauses Müller , der für die Projektentwicklung und Produktion verantwortlich zeichnet. Bretschneider hat mit ihrem Team bereits die Audiowalks „Shaking Hands with Ghosts“ über die Geschichte der AG Weser und „Kein Schiff wird kommen“ zur Geschichte des Bremer Überseehafens realisiert.

Unter guidemate.de wählen wir den Audioguide aus. Eine Karte dient zusätzlich der Orientierung. Foto: Ulf Buschmann
Zwischen Realität und Fiktion
Nach der Premiere im Sommer können Interessierte den Audiowalk „Trautes Heim, Glück allein“ nun jederzeit auf eigene Faust kostenlos erleben. Man braucht dafür lediglich ein Smartphone und gute Kopfhörer sowie die App oder die Homepage guidemate.de. Wichtig zu wissen vorab: „Es ist eine künstlerische und keine dokumentarische Arbeit. Es geht um das Spiel mit der Spannung zwischen Realität und Fiktion“, sagt Katrin Bretschneider. Und ergänzt: „Über das Medium Audiowalk können wir Projektionsräume schaffen, die mit der Lücke spielen, zwischen dem, was ich real vor Ort sehe, und dem, was wir über Sprache und Sound vor dem inneren Auge entstehen lassen können. Ich kann also mit ästhetischen Mitteln eine Nähe entstehen lassen, die real so gar nicht da ist.“

Startpunkt des Audiowalks ist beim KulturHaus Müller in Ganderkesee. Foto: Daniela Krause
Der Luxus von Küche und Klo
Startpunkt für den Audiowalk ist das KulturHaus Müller / Ecke Am Glockenstein in Ganderkesee. Von dort aus laufen wir los, angetrieben von beschwingter Musik und geführt von den präzisen Anweisungen der Regisseurin. Auf unserem Weg tauchen wir in die Geschichte des Einfamilienhauses ein. Beginnend vor etwa 100 Jahren, als die Menschen entweder noch dichtgedrängt in städtischen Wohnungen lebten oder im ländlichen Raum zusammen mit ihrem Vieh in Bauernhäusern. Was müssen die ersten Einbauküchen und Toiletten mit Wasserspülung damals für eine Erleichterung gewesen sein!? Heute ist es selbstverständlich, dass Wasser fließt, wenn wir die Spültaste drücken.
Sind wir Spießer? Ich glaube, ja!
Mit dem Siegeszug des Eigenheimes, der nach dem Zweiten Weltkrieg nicht lange auf sich warten ließ, konnten die Menschen ihr Bedürfnis nach Freiheit, Sicherheit, Unabhängigkeit, Heimat und Geborgenheit stillen. Doch das Einfamilienhaus polarisierte auch. Während der Tour fallen flüsternd Begriffe wie Flächenfraß, Zersiedelung, Pendlerwahn und auch Vereinsamung im Alter. Alle Stimmen kommen gleichberechtigt und wertungsfrei zu Wort. Markus, ein Einwandererkind, erzählt zum Beispiel, dass er vor gut zehn Jahren in Ganderkesee gebaut hat. Zuvor hatte er in Mietwohnungen gewohnt. Ein eigenes Haus war immer ein großer Traum. Sarah und Bruno leben mit ihren Kindern ein Wohngebiet weiter. Sie sind froh, dass ihr Nachwuchs ohne Bedenken aufwachsen kann. Der riesige Garten bietet viel Platz zum Toben und Spielen. „Sind wir Spießer?“, fragt sie. „Ich glaube, ja!“

Blick in ein Wohngebiet mit Spielstraße. Foto: Ulf Buschmann
Einbindung der Menschen vor Ort
Während des Audiowalks kommt die Frage auf, wie die Menschen vor Ort in das Projekt eingebunden wurden. Dazu sagt Katrin Bretschneider: „In der Vorbereitung und der Kommunikation hat das KulturHaus Müller und sein Team eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Wir haben am Anfang und am Ende des Produktionsprozesses jeweils einen Brief an alle Hausbriefkästen des Quartiers verteilt. Darin haben wir über das Projekt informiert und proaktiv sowohl die Möglichkeit angeboten, sich einzubringen und die Arbeit mitzugestalten, als auch offen zu sagen: Wir möchten nicht, dass unser Haus vorkommt. Beides wurde angenommen. Der Ton war in beiden Fällen freundlich. Das Feedback nach den zwei öffentlichen Erstbegehungen, bei denen auch Anwohnerinnen und Anwohner dabei waren, war durchweg positiv. Ich kann mich an Sätze erinnern wie: Das war ja ganz anders, als wir erwartet hatten. Wir hatten schon Befürchtungen, aber nichts davon ist eingetreten und wir sind froh, dabei gewesen zu sein.“

Eine freie Grünfläche lässt Raum für Gedankenspiele: Was könnte dort entstehen? Foto: Daniela Krause
Sensible Bereiche
Von Anfang an sei dem Team bewusst gewesen, dass es beim Thema Eigenheim auch um Privatsphäre und sehr persönliche Lebensentscheidungen geht. „Das sind sensible Bereiche, und uns war wichtig, dem respektvoll und mit Offenheit und Empathie zu begegnen.“ Ihr selbst seien in diesem Zusammenhang Gefühle von Geborgenheit und Freiheit vertraut, aber eben auch die „Enge der Rollen- und Familienbilder“, die diese Wohnform beinhalten kann. Besonders deutlich wird dies, als wir in der Mitte eines Wendehammers stehen und uns langsam um die eigene Achse drehen. Durch die Soundcollagen entsteht hier ein Gefühl von Nähe, das einen fast schon peinlich berührt. Man könnte meinen, die Geräusche dringen unmittelbar aus dem Haus vor uns: Klospülung, der 20 Jahre alte Tagesschau-Jingle, Ehekrach.
Es geht um die Schaffung von Projektionsräumen, in der sich Wahrheit und Fiktion bewusst mischen.
Immer wieder gibt es während des Spaziergangs Zwischenstationen zum Innehalten, an denen uns die Autorin begegnet. Für sie sei früh im Prozess klargeworden, dass ihre eigene biografische Erfahrung eine dramaturgische Rolle spielen und eine Art Bindeglied zwischen den einzelnen Elementen und Perspektiven sein könnte. „Ich habe mich dann entschieden, den Lebenszyklus eines Einfamilienhauses vom Bau bis zum Ausräumen des Elternhauses als dramaturgisches Gerüst zu nutzen. Und es war klar: Ich mache das nicht abstrakt, sondern konkret anhand meiner Erinnerungen an unser Einfamilienhaus. Dabei muss nicht immer alles zu 100 Prozent autobiografisch sein“, erklärt Katrin Bretschneider. Auch hier gehe es um die Schaffung von Projektionsräumen in der sich Wahrheit und Fiktion bewusst mischen.

Eine hohe Hecke wie diese schützt gegen Blicke von außen. Foto: Daniela Krause
Der richtige Schaukel-Sound
Die Geräusche und Klangcollagen tun ihr Übriges, damit wir uns problemlos in unterschiedliche Wohnräume und Lebenswelten hineinversetzen können. In einer Szene hört man die Regisseurin als Kind im Garten schaukeln und es entstehen Bilder aus der eigenen Kindheit vor dem geistigen Auge. Was der Zuhörer allerdings nicht weiß: wie lange das Team nach dem richtigen Schaukel-Sound für diese Stelle gesucht hat. „Faszinierenderweise hatten ganz viele Premierenzuschauerinnen und -zuschauer, die ebenfalls in den 70er- bis 80er-Jahren großgeworden sind, exakt dieses Schaukelmodell vor Augen, das wir auch im Garten stehen hatten“, erzählt sie.

Der Hörspaziergang weckt Erinnerungen an die eigene Kindheit. Foto: Daniela Krause
Das Ausräumen des Elternhauses
Am Ende des Audiowalks ist aus dem stolzen Neubau ein sanierungsbedürftiger Altbau geworden. Etwas beklommen stehen wir vor einem Einfamilienhaus, während Katrin Bretschneider uns über die Kopfhörer eindrücklich den Moment des Ausräumens des eigenen Elternhauses schildert, nachdem ihr Vater verstorben war. „Das ist noch gar nicht so lange her und war natürlich nochmal sehr intensiv“, sagt sie später über diese persönliche Szene. „Aber genau diese Momente waren es dann auch, die viel Feedback ausgelöst haben und das Premierenpublikum besonders berührt haben – vor allem die, die das selbst schonmal erlebt haben.“
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Anuschka Bacić
Ulf Buschmann