Die gleichen alten Schinken
Die Bremer Unibibliothek hat unser Autor mindestens 20 Jahre lang nicht von innen gesehen. Dass die gleichen alten Literaturschinken noch immer in den Regalen stehen, wundert ihn nicht. Und doch hat sich einiges verändert.
Von Ulf Buschmann
Dieses Gebäude da mit den Lichtern links am Boulevard zieht mich an. Vor 30 Jahren um diese Zeit verbrachte ich dort Stunden, um nach Literatur zu suchen – meistens erfolglos, weil die meisten Bücher bereits verliehen waren. „Sie können sich gerne auf die Liste setzen lassen“, war einer der Standardratschläge. Aber sechs bis acht Wochen warten, passte nicht so ganz in meinen Zeitplan. Ich muss schmunzeln, als ich durch die Drehtür gehe. Nun stehe ich hier: im Foyer der Bremer Unibibliothek.
Gut und gerne 20 Jahre war ich nicht mehr hier. Ich stelle fest, dass sich einiges verändert hat: moderne Sitzmöbel, freier Zugang ohne Eingangskontrollen, ein weit geöffnetes Erdgeschoss, das es so früher nicht gab. Auch meinen Rucksack und meine Jacke muss ich nicht mehr abgeben. Wenn ich möchte, kann ich alles mit hineinnehmen. Ich entscheide mich jedoch für den Weg zur Garderobe.
Der Besuch hier ist spontan, nach einem Termin im Bremer Institut für Produktion und Logistik (BIBA). Ich interessiere mich für den Literaturbestand – nicht etwa für Religion, kurz „rel“ oder Pädagogik („päd“). Ich steuere die drei, vier Regalreihen mit der Bremen-Literatur an, die unter dem Stichwort „bre“ abgelegt sind. Ich muss unweigerlich schmunzeln, finden sich im 3. Obergeschoss doch noch immer die gleichen Schinken wie zu meiner Studienzeit Anfang bis Mitte der 1990er-Jahre.
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Altbewährtes im 3. OG
Jahrbücher, Berichte der SPD-Bürgerschaftsfraktion von 1983 – ich greife wahllos hinein, blättere das ein oder andere Stück moderner hiesiger Literatur durch, grinse mir einen und stelle die Bücher und Broschüren zurück ins Regal; die meisten sind mit einem kleinen, mir ebenfalls bekannten Hinweis auf dem Buchrücken versehen: „Nicht ausleihbar“. Besonders anhand der Adressbücher lässt sich übrigens erahnen, wann die große Zeit des Internets in der Forschung begann: Der Bestand endet im Jahr 2003.
Nicht alle Bücher stelle ich wieder zurück. Zwei Bücher nehme ich mit zu einem der Arbeitsplätze, die es auch schon zu meiner Zeit gab. „Alles kaputt und wieder von vorne – Liederbuch mit Noten“ heißt eines der Werke. Es ist 1981 im Frauen Literatur Verlag erschienen. Autorinnen sind Danny Hirschbach und Kathrin Mosler. „Wir sind seit 1974 in der Frauenbewegung zu Hause und machen Musik“, schreiben sie über sich. Bilder aus den 1970er-Jahren kommen mir in den Sinn: Frauen demonstrieren tausendfach für die Abschaffung des „Abtreibungspararafen 218“.
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Literatur für die Orgie
Amüsiert blättere ich durch „Viele Grüße aus Bremen und umzu“. Dieses Werk, scheinbar komplett mit Schreibmaschine geschrieben und per Wachsmatritze vervielfältigt, ist nicht etwa einer der zahllosen Stadtführer. „Bremens Gegenwart ist nicht I-A, Wau-Wau, Miau und Kikeriki“, grenzen sich die Autoren nicht wirklich ernstmeinend von den etablierten Verlagen der 1970er- und frühen 1980er-Jahre ab. „Dieses Buch soll Hilfe sein im Kampf gegen den täglichen Frust, eine Hilfe für den dogmatischen Individualisten und eintönigen Szenefeten. Nehmen Sie ein Buch mit auf die nächste Orgie, Anschauungsmaterial belebt die Atmosphäre. Erklären Sie anhand irgendeines Kapitels den dialektischen Materialismus. Sie werden von allen Anwesenden als absolute Kompetenz und Autorität anerkannt, denn sowas schaffte vor Ihnen noch niemand.“
Ich flüstere mir ein leises „Ach Du Scheiße!“ zu, während ich noch schnell einen Blick in den „Infas-Report Wahlen“ werfe. Dieser befasst sich mit dem Ausgang der Bürgerschaftswahlen 1979. In diesem Jahr zog die erste Grünen-Fraktion ins Parlament ein – ein Moment des Weltuntergangs in den Augen der Konservativen. Im Streit um den geplanten Ausbau der „Mozarttrasse“ und dem damit geplanten Abriss zahlreicher Häuser im Ostertorviertel waren 18 SPD-Mitglieder um Olaf Dinné aus der Partei ausgetreten. Sie gründeten die Bremer Grünen Liste (BGL) und schafften aus dem Stand 5,14 Prozent. Olaf Dinné, Axel Adamietz, Peter Willers und Delphine Brox drehten die eine oder andere Debatte auf Links.
Zu spüren war dieser Geist zumindest an der Bremer Uni während meines Studiums durchaus noch – wenn auch nicht mehr in dem Maße, wie knappe zehn Jahre zuvor. Immerhin hält sich dieser Geist noch in den alten Schinken in den „bre“-Regalen. Denn als ich meine Jacke und meinen Rucksack abhole, erzählt mir eine der Studierenden, dass sie gerade dabei seien, den Bestand zu entrümpeln. Schade eigentlich.



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