Über den christlichen Antisemitismus

Dass Helmut Holtmann ein auf seine Weise besonderer Kopf ist, durfte ich schon vor über 30 Jahren erfahren. Im November 1991 waren wir beide gemeinsam in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Unter dem Motto „Erinnern für die Zukunft“ gedachten unter anderem wir der Deportation mehrerer Hundert Bremer Juden ins Minsker Ghetto durch die Nazis. Die Reise habe ich bis heute nicht vergessen. So nah war ich dem Antisemitismus bis dato noch nie gekommen.

In diesen Tagen hat sich ein Kreis geschlossen: Helmut Hollmann und ich haben wieder Kontakt zueinander. Dafür gesorgt hat sein aktuelles Projekt. Am 17. und 18. März spricht er in der Bremer Remberti-Kirchengemeinde den Monolog „Judas“ der niederländischen Dramatikerin Lot Vekemans. Dies dürfte hochinteressant werden. Denn Helmut Holtmann präsentiert eine eigene Fassung, die er mit Zitaten von Walter Jens und Amos Oz ergänzt. Unterstützung bekommt der Schauspieler von einem 30-köpfigen Chor.

Das andere Judas-Bild

So kurz vor Ostern schon wieder ein Stück, das Judas thematisiert? Judas, der Christus an die Römer verraten hat? Judas, der Jesus ans Kreuz brachte? Nein, das ist es nicht. Dann hätte ich mich nicht dafür interessiert. Doch Lot Vekemans erzählt die Geschichte vom Jünger Judas anders. Der von Helmut Holtmann gesprochene und inszenierte Monolog kreist nicht nur um sein – angebliches – Fehlverhalten. Judas hat eine Kindheit, eine Familie und Freunde. Bei Lot Vekemans wird aus dem vermeintlichen Verrat der Dienst eines Freundes, der für Gottes Heilsplan notwendig ist.

Ich selbst praktiziere meine Religion recht intensiv und ich befasse mich mit ihrer Geschichte. Aber ich gebe zu, dass auch ich Judas bislang noch nie so gesehen habe, wie Lot Vekemans ihn beschreibt. So gesehen hat Helmut Holtmann meinen religiösen Horizont ein ganzes Stück geweitet. Und das, ohne dass ich das Stück bislang gesehen habe.

„Tschernobyl des christlichen Antisemitismus.“

Woran ich bis zu unserem Gespräch noch nie einen Gedanken verloren hatte: Das Judas-Bild, das wir allgemein von Judas haben, hat zu christlichem Antisemitismus geführt. Davon ist Helmut Holtmann überzeugt. Er hat recht mit seiner Sichtweise, dessen bin ich mir inzwischen bewusst! „Judas ist für uns ein Synonym für Verrat geworden“, sagt Helmut Holtmann zu mir: „Die Geschichten von Judas, wie sie in den Evangelien stehen, ist das Tschernobyl des christlichen Antisemitismus.“

Kaum ein von mir aufgeschriebenes Zitat hat mich so nachdenklich gemacht. Was meint Helmut Holtmann wohl mit „Tschernobyl des christlichen Antisemitismus“? Tschernobyl – Atomkatastrophe – größter anzunehmender Unfall, GAU – die Gedankenkette schließt sich. Helmut Holtmann meint den GAU des christlichen Antisemitismus. Er gibt mir noch etwas mit auf den Weg: „Wenn wir uns als Christen aus Deutschland mit dem Judentum beschäftigen, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns mit der Shoah zu befassen.“ Der Kreis zu unserer Reise nach Minsk hat sich geschlossen.