Zeichen in den Wolken

Viktoria hat drei Kinder. Ihre Tochter Mariya-Aaliyah kam vor drei Jahren als Sternenkind auf die Welt.

Von Daniela Krause

Wolken

Manchmal sieht Viktoria in den Wolken Botschaften ihres Sternenkindes. Fotos: Daniela Krause

Wenn Viktoria mit ihren beiden Kindern einen Spaziergang macht, schaut sie achtsam in den Himmel. Für sie sind Wolkenbilder wie Herzen, Engel oder Blumen ein Gruß ihrer Tochter Mariya-Aaliyah, die von dort oben auf ihre Mutter und ihre Geschwister aufpasst, bis sie irgendwann wieder vereint sind. Um auf das oft tabuisierte Thema Sternenkinder aufmerksam zu machen, teilt Viktoria hier ihre Geschichte.

Wie durch Watte

Vor drei Jahren hörte Mariya-Aaliyahs winziges Herz in der zehnten Schwangerschaftswoche auf zu schlagen. „Ich war bei einer Vertretung meines Frauenarztes zur Vorsorgeuntersuchung. In den Tagen zuvor hatte ich trennungsbedingt großen Stress gehabt und fühlte mich nicht gut. Die Ärztin sagte mir während der Untersuchung: Es ist gewachsen, genau 3,2 cm groß.“

Anders als bei ihren bisherigen Kindern konnte Viktoria auf dem Ultraschallbild jedoch keinen Herzschlag erkennen. „Und das Herz?“, fragte sie mit einer bösen Vorahnung. Die Ärztin sagte, dass genau da das Problem liege. Sie bat die junge Frau, sich anzuziehen und in den Besprechungsraum zu kommen. „Von da an nahm ich alles wie durch Watte wahr“, erinnert sich Viktoria. Nur noch Wortfetzen wie „müssen schnell handeln“, „Überweisung in die Klinik“ und „es wird rausgeholt“ drangen zu ihr durch. „Es“, dachte sie. Als wenn ihr Kind ein Gegenstand wäre.

Keine Bedenkzeit

Bedenkzeit, die sich die junge Mutter gewünscht hätte, habe es nicht gegeben. Ebenso habe es keine Aufklärung darüber gegeben, dass eine kleine Geburt möglich gewesen wäre. Die Fehlgeburt kann dabei, sofern eine Ausschabung nicht zwingend medizinisch notwendig ist, auf natürlichem Wege abgewartet werden, bis der Körper das Baby von alleine gehen lässt, oder sie wird medikamentös eingeleitet. So ist es unter anderem auf dem Hebammenblog nachzulesen. Dies geschieht demnach unter ärztlicher Begleitung und Kontrolle. Auch Hebammenhilfe steht den betroffenen Frauen zu. Von dieser Alternative erfuhr Viktoria jedoch erst Wochen danach, als es bereits zu spät war.

Am Morgen der Ausschabung stillte Viktoria noch ihren kleinen Sohn, dann fuhr sie mit ihrer Mutter ins Krankenhaus. Ein zweiter Arzt bestätigte den Tod des Ungeborenen. „Bevor es zu dem Eingriff kam, sagte ich, dass ich Mariya-Aaliyah hinterher gerne noch einmal sehen möchte“, erzählt Viktoria. „Er erlaubte es.“ Das, was folgte, hat sie verschwommen in Erinnerung: „Ich weiß noch, dass eine Arzthelferin zu mir sagte: ,Sie haben ja morgen Geburtstag, dann können Sie was trinken.‘ Wenn ich nicht schon den Zugang gelegt bekommen hätte, wäre ich aufgestanden und gegangen.“ So dämmerte sie ein und wachte irgendwann mit Schmerzen wieder auf.

Der Moment war gekommen: Sie durfte ihre Tochter sehen. „Man gab mir einen Plastikbehälter und beschrieb mir, was ich da sehe. Erst später realisierte ich, dass meine Tochter nicht am Stück herausgeholt worden war. Der Arzt saß neben mir. Ich hatte das Gefühl, mich unter Zeitdruck verabschieden zu müssen.“ Wie betäubt verließ Viktoria das Krankenhaus.

Der Geburtstag

Ihr 24. Geburtstag wurde für die junge Frau ein Tag voller Schmerz und Trauer. „Meine Schwestern hatten die Küche dekoriert und eine Torte gemacht“, sagt die heute 26-Jährige. „Körperlich war ich anwesend, mit den Gedanken aber ganz wo anders.“

Am dritten Tag nach der Ausschabung rief sie im Krankenhaus an: Es ging um Mariya-Aaliyahs Beerdigung. Diese wäre durch das Krankenhaus als anonyme Sammelbestattung möglich gewesen, hieß es. Wenn sie etwas anderes wünsche, müsse sie die Kosten alleine tragen. „Eine Sammelbestattung kam für mich nicht in Frage. Ich wollte ein einzelnes Grab, mit dem Namen meiner Tochter, um das ich mich kümmern kann.“

Bei ihrer Internet-Recherche stieß Viktoria auf die Website von Krause-Bestattungen in Diepholz und erfuhr, dass Marlene Krause Trauerbegleitung anbietet. „Ich kontaktierte sie, und sie sagte mir, dass es für eine Bestattung günstigere Varianten gebe. Marlene unterstützte mich nach Kräften und plante gemeinsam mit mir die Trauerfeier.“

Regenbogen

Ein Regenbogen ist für Viktoria ein Geschenk von Mariya-Aaliyah. Gleichzeitig steht der Regenbogen für das Folge-Wunder, wenn nach einem Sternenkind ein Kind geboren wird.

Abschied nehmen

Für 24 Stunden durfte Mariya-Aaliyah vor ihrer Beisetzung nach Hause. Marlene Krause holte sie aus der Pathologie und brachte sie in einem kleinen Nestchen zu Viktoria. „Diese Zeit gemeinsam mit ihr war das Kostbarste für mich. Wir waren noch einmal alle zusammen, und konnten endlich richtig Abschied von ihr nehmen.“ Zur Erinnerung machte Marlene Krause Fotos, die Viktoria seitdem hütet wie einen Schatz – so wie alle Dinge, die sie mit ihrer Tochter verbinden. Ein Stern wurde auf ihren Namen getauft. Doch was Viktoria noch viel wichtiger ist: Sie hat eine standesamtliche Bescheinigung über die Geburt bekommen. „Es ist der Beweis ihrer Existenz. Der Beweis, dass ich Mutter von drei Kindern bin.“

Die kleine Mariya-Aaliyah wurde auf einem Friedhof in einem Urnengrab für Sternenkinder beigesetzt, in einer von ihrer Familie geschmückten Schatulle mit einem Stoffherzen und einem von Viktoria selbst gehäkelten Sternendeckchen im Inneren. „Die Feier mit der Trauerrede war sehr schön“, erzählt Viktoria. „Am Ende ließen wir Luftballons steigen.“ Durch Marlene habe sich ihre Geschichte in diesem Moment zum Bestmöglichen gewendet. Den Kontakt halten die beiden immer noch. Zu Mariya-Aaliyahs zweitem Sternen-Geburtstag schickte ihre Familie erneut Luftballons in den Himmel.

Vom Umgang mit der Trauer

Es gibt Tage, an denen es weh tut, an denen die Trauer Viktoria zu überwältigen droht. Meist dann, wenn sie ein anderes Mädchen sieht, in dessen Alter ihre Tochter inzwischen sein müsste. „An ihrem Grab kann ich meinen Gefühlen dann freien Lauf lassen und mit ihr sprechen.“

Auch gemeinsam mit ihrer fünfjährigen Tochter und ihrem dreijährigen Sohn besucht Viktoria regelmäßig Mariya-Aaliyahs Ruhestätte. „Wir bringen ihr frische Blumen, kleine Spielsachen oder Selbstgebasteltes mit.“ Das Grab verändert sich mit den Jahreszeiten. „Es neu zu gestalten, gibt mir und meinen Kindern das Gefühl, noch etwas für sie tun zu können. Bei einer Sammelbestattung wäre das in diesem Rahmen nicht möglich gewesen.“

Über die sozialen Medien tauscht sich Viktoria mit Sterneneltern aus. Die Posts auf ihrem Instagram-Profil sind für sie ein wichtiger Teil der Trauerarbeit – genauso wie das offene Gespräch mit anderen über ihr persönliches Erlebnis.

Die „Watermethode“

Durch den Verein „Hope’s Angel“ hat sie von der niederländischen „Watermethode“ erfahren. „Leider zu spät für Mariya-Aaliyah.“ Bei dieser Methode wird der Fötus bis zu eine Woche lang in kaltem Wasser aufbewahrt. Auf diese Weise schwebt er in der Flüssigkeit wie in der mütterlichen Fruchtblase und sieht dadurch schöner und natürlicher aus. „Das hätte ich mir für meine Tochter gewünscht.“

Nicht nur für ihre Mutter, auch für ihre Geschwister ist Mariya-Aaliyah allgegenwärtig: „Wir reden viel über sie und mit ihr“, sagt Viktoria. Immer wieder kommt die Frage auf, was sie wohl gerade im Himmel macht. Wenn zu viel Unordnung herrscht, sagen die beiden gerne mal: Mariya-Aaliyah war das.“ Ein Regenbogen ist ein „Geschenk von Mariya-Aaliyah“. Und wenn die Kinder gefragt werden, wie viele Geschwister sie haben, dann antworten sie: „Zwei, aber unsere kleine Schwester ist im Himmel.“

Über Fehlgeburten

Laut Informationen des Berufsverbandes der Frauenärzte enden in Deutschland knapp ein Drittel aller Schwangerschaften bis zum dritten Monat durch Fehlgeburten. Ein Grund dafür wird häufig nicht gefunden. Trauer sei dem Verband zufolge richtig und wichtig. „Dabei ist es ganz gleich, ob es sich um einen Abort in der frühen Schwangerschaft gehandelt hat oder um eine spätere Fehlgeburt. Immer fühlt die Frau den Verlust eines Lebens, und fast immer wird sie auch in späteren Jahren ab und zu an dieses Kind denken, selbst wenn andere Schwangerschaften glücklicher verlaufen sind“, heißt es in einer Mitteilung. Vielen Frauen hilft es, ihre Erlebnisse mit anderen Sterneneltern zu teilen. Dafür gibt es auch im Internet Raum. Die Journalistin Julia Stelzner-Konrad sammelt zum Beispiel auf ihrer Internetseite Berichte von Müttern, die über ihre Fehlgeburten sprechen möchten.

Über Trauerbegleitung

Zum Thema Trauerbegleitung von Familien mit Sternenkindern hat unsere Autorin mit Marlene Krause ein Interview geführt.

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