Wer sich nicht durch die umfangreichen Programme der Parteien kämpfen möchte, zieht für die Bundestagswahl am 26. September 2021 gerne ein Online-Tool zu Rate. Zum Wahl-O-Mat gibt es nun ein feministisches Pendant: „Wahltraut“ fühlt den großen Parteien in puncto Gleichberechtigung auf den Zahn. Wir haben mit Co-Initiatorin, Politikaktivistin und Podcasterin Sally Lisa Starken gesprochen. Sie hat die Online-Wahlhilfe mit Cordelia Röders-Arnold auf den Weg gebracht.
Im vergangenen Jahr hatten die beiden mit der Kampagne #stattblumen bereits auf die strukturellen Benachteiligungen von Frauen während der Coronapandemie aufmerksam gemacht. Im Interview erzählt Sally Lisa Starken, was es mit „Wahltraut“ auf sich hat und wie das Tool funktioniert.
Frau Starken, erklären Sie bitte in 30 Sekunden: Was ist „Wahltraut“?
Sally Lisa Starken: „Wahltraut“ ist eine feministische Wahlberaterin, die wir ins Leben gerufen haben. Sie funktioniert ähnlich wie der Wahl-O-Mat: Man kann sich durch Thesen klicken und hat nachher das Bild, wie die eigene Meinung mit der Meinung der einzelnen Parteien übereinstimmt. Bei uns sind es die fünf großen Parteien. Die AfD hat auf unsere Fragen nicht geantwortet.
Das Ganze ist relativ transparent: Wir haben 57 Wahlprüfsteine entwickelt und haben diese an die Parteien geschickt. Diese durften uns dann Rede und Antwort stehen. Sie konnten „stimme zu“, „stimme nicht zu“ oder „neutral“ anklicken und ihre Meinung begründen. Genau das kann man bei „Wahltraut“ mit der Hälfte der Thesen jetzt auch machen. Die Themenbereiche sind Gleichstellung, Antirassismus, Klima, Inklusion und LGBTQIA+-Rechte (LGBTQIA+ steht für Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Trans, Queer, Inter, Asexuell und alle anderen Personen, A.d.R.) .
Das ist der Unterschied zum Wahl-O-Mat, denn er bildet diese Themen unzureichend ab. Da gibt es genau eine Frage zu diesem Thema. Deshalb haben wir gesagt, wir machen ein Wahltool, das in diese Bereiche genauer reinschaut. Denn es ist auch eine feministische Wahl: 16 Jahre Angela Merkel bedeutet, dass es einen Umbruch geben kann, und wir die Chance für Neuerungen gesehen haben, Gleichstellungspolitik wieder mehr in den Vordergrund zu spielen.
„Wahltraut“ wurde nun ganz aktuell auch in leichter Sprache aufgesetzt. Was war Ihre Intention dahinter?
Wir sind ja rein ehrenamtlich unterwegs. Alle Unternehmen, die ihre Leistungen zur Verfügung gestellt haben, bekommen dafür kein Geld. Insgesamt haben wir zehn Monate lang an diesem Wahltool gearbeitet. Als es rausgekommen ist, haben wir selber gemerkt, dass einige schwierige Wörter dabei sind, wie Parität oder Schwangerschaftsabbruch. Deshalb haben wir etwas Geld gesammelt und das Ganze nochmal in leichter Sprache herausgebracht, damit es so barrierefrei wie möglich ist und Menschen, die eine leichte Sprache sprechen, auch eine Wahlentscheidung treffen können, indem sie „Wahltraut“ benutzen.
Bei „Wahltraut“ geht es zum Teil um sehr detaillierte Themen, wie kostenlose Menstruationsprodukte auf öffentlichen Toiletten oder kostenlose Kinderbetreuung. Bildet das Tool die Themenvielfalt so ab, dass Sie damit zufrieden sind?
Die Bausteine für das Tool haben wir ja nicht alleine entwickelt: Es gab ein Gremium aus über 18 Organisationen und Einzelpersonen, die sich in den verschiedenen Bereichen auskennen. Wir haben das Ganze koordiniert, damit alle Wahlprüfsteine zusammenkommen. In dem Tool sind jetzt 32 Stück, es gibt aber insgesamt 57 die man herunterladen kann. Dort sind fast alle Themenbereiche abgebildet. Natürlich reicht das nie aus. Als wir die 57 hatten, haben wir gemerkt, da gibt es noch viel, viel mehr. Aber wir mussten uns beschränken, denn wir wollten auf keinen Fall, dass das Beantworten zu lange dauert und die Leute in der Mitte abbrechen.
Es gibt zum Beispiel Themenbereiche wie Geburtshilfe, wo auf auf jeden Fall noch etwas fehlt oder auch wenn es um Alleinerziehende geht, haben wir es nicht explizit drin. Es steckt in vielen Themenbereichen wie Mindestlohn oder Care-Arbeit. Aber man kann es immer noch besser und schöner machen. Wir nehmen Kritik sehr gerne an und freuen uns über das Learning für die nächste „Wahltraut“.
Gibt es für Sie Vorbilder – den Wahl-O-Mat mal ausgenommen – nach denen Sie „Wahltraut“ gestrickt haben?
Ja, es gibt diese Wahltools ja schon länger auch in mehreren Bereichen. Es gibt zum Beispiel den Sozial-O-Mat der Deutschen Diakonie, der sehr toll ist. Es sind dieses Jahr aber auch noch weitere Tools rausgekommen, die in eine ähnliche Richtung gehen und mit denen wir vorher auch gesprochen haben. Das ist zum Beispiel der Klimawahlcheck oder auch die Progressomaschine, mit denen wir sehr engen Kontakt hatten, um zu schauen, in welche Richtung wir gehen, wo wir uns überschneiden und wo man zusammenarbeiten kann.
Eines haben alle Tools gemeinsam: Es gibt eben Themen, über die noch mehr informiert werden muss. Informationen bereitzustellen zur Wahl ist gerade das Wichtigste, was wir machen können, damit Menschen ihre Wahlentscheidung auf Fakten treffen und nicht auf Meinung oder Erfahrung anderer, die sie im Wahlkampf mitbekommen. Das ist, glaube ich, das größte Vorbild, dass man sich auf Fakten berufen kann.
Haben Sie denn nur die Wahlprogramme und Anfragen an die Parteien für den Aufbau von „Wahltraut“ verwendet oder gibt es noch weitere Datengrundlagen?
Nein, wir haben die Parteien selbst antworten lassen. Alles was man in „Wahltraut“ findet, ist das, was die Parteien uns zurückgemeldet haben. Wir haben zwar in die Wahlprogramme geschaut, das findet sich im Tool aber nicht wieder, weil wir so transparent wie möglich sein und nicht bewerten wollten.
Welche Erfahrungen haben Sie bislang mit „Wahltraut“ gemacht, und wie ist der Zuspruch von Seiten der Nutzer?
Gut. Wir haben über 200.000 Nutzer*innen seit dem Start, was für uns sehr, sehr viel ist, und wir freuen uns total darüber, dass das Wahltool so gut angenommen wird. Unser Ziel war es, aus unserer eigenen Bubble herauszukommen. Das haben wir zum Teil geschafft. „Wahltraut“ hat es in WhatsApp-Familiengruppen geschafft, in Schulen, findet den Einzug in viele verschiedene Bereiche, was für uns richtig schön ist.
Wir bekommen natürlich auch Kritik, gerade dahingehend, dass wir nur fünf Parteien haben, sehr viele Anfragen, warum die AfD nicht dabei ist. Das steht aber auch in unseren FAQ: Sie haben nicht geantwortet. Wir haben sie angeschrieben.
Den Punkt, warum die kleinen Parteien nicht abgebildet sind, nehmen wir auf jeden Fall mit. Das war aber aus ehrenamtlicher Sicht nicht zu schaffen, 40 kleine Parteien noch mit reinzunehmen – auch, wenn wir wissen, wie wichtig die Arbeit von allen Parteien ist.
Der Wahl-O-Mat behandelt LGBTQIA+ ja nur rudimentär. Macht es Ihrer Meinung nach dennoch Sinn, so ein geschlechtsspezifisches Angebot aufzusetzen?
Ich finde schon, sonst hätten wir „Wahltraut“ nicht entwickelt. Wir finden das Thema einfach sehr wichtig. Es ist auch gar nicht so spezifisch, wenn wir ehrlich sind, weil Gleichstellungspolitik ein Querschnittsthema ist. Es findet sich überall wieder. Geschlechterpolitik gehört einfach in jeden Bereich mit hinein und muss mit hineingedacht werden.
Das sieht man ja auch bei „Wahltraut“: Es geht um Arbeit, es geht um Klima, es geht um Rassismus, es geht um Außenpolitik, es geht um Inklusion. Überall dort kommt auch Identitäten- und Geschlechterpolitik vor, und deshalb finde ich es umso wichtiger, dass es auch mehr Einzug in die Politik hat. Dass mehr darüber gesprochen wird, dass wir mehr sind als traditionelle Familienbilder, dass wir ganz oft Politik auf dem Rücken von marginalisierten Gruppen machen.
Genau das ist der Punkt, den wir auch zu dieser Wahl sehen sollten, wenn wir uns die Programme anschauen. Und ich würde mich sehr freuen, wenn der Wahl-O-Mat, der Bundeszentrale für Politische Bildung zur nächsten Wahl an uns herantritt und sagt: „Das war schön, was ihr gemacht habt. Lasst uns das doch zusammen machen.“
Angenommen, Sie hätten die Möglichkeit, das Projekt nochmal neu aufzusetzen: Was würden Sie anders machen?
Beim nächsten Mal hätten wir ein Projektmanagement und würden uns einen besseren Zeitstrahl erarbeiten. Man darf die Arbeit wirklich nicht unterschätzen. Das haben wir am Anfang. Darum hat es auch zehn Monate gedauert. Wir wollten noch viel mehr politische Aufklärungsarbeit viel schneller machen. Aber das haben auch anderer Projekte gemerkt, dass es gar nicht so einfach ist, Parteien diesen Druck zu machen, um Antworten zu bekommen. Da würde ich das nächste Mal eher starten, mit jemandem, der den Hut aufhat und alles genau überblicken kann.
Sie haben das Projekt gemeinsam mit Cordelia Röders-Arnold aufgebaut. Wie kam es zu dieser Verbindung?
Wir haben im vergangenen Jahr die Kampagne #stattblumen ins Leben gerufen, als wir gemerkt haben, dass Corona auf dem Rücken von Frauen und marginalisierten Gruppen ausgetragen wird und haben einen Appell an die Bundesregierung geschrieben. Wir kannten uns eigentlich aus politischer Arbeit über Instagram. Es war ehrlich gesagt eine Samstagabend-Schnapsidee auf dem Sofa. Daraus ist dann Schritt für Schritt alles entstanden: Wir wollten erst was zum Muttertag machen, daraus ist dann ein Appell geworden. Als wir gesehen haben, dass dieser über 10.000 Unterschriften hatte und wir Politik verändern wollen, war für uns der nächste Schritt die Bundestagswahl, weil dort jeder und jede seine Stimme abgeben kann.
Jetzt steht die Bundestagswahl bevor. Wie geht es nach der Wahl mit „Wahltraut“ weiter?
Das ist eine gute Frage, die wir noch gar nicht so richtig beantworten können. Wir wollen weiter politische Aufklärungsarbeit machen. Wir wollen das Ergebnis der Wahl beobachten, wer mit wem in Koalitionsverhandlungen geht, was am Ende dabei herauskommt, wieviel Gleichstellung noch überbleibt von dem, was die Parteien uns durch ihre Antworten zugesichert haben. Da werden wir weiter dranbleiben. Nach der Wahl machen wir erstmal eine kleine Pause. Dann werden wir die Köpfe wieder zusammenstecken und schauen, in welche Richtung es geht.
Wahl-O-Mat
Wie steht es um die Nutzung des Wahl-O-Mat in der Region? Wir haben nachgefragt. Die Antwort gibt es hier.
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