Es passieren fast jeden Tag kleine Wunder

Was geschieht, wenn unter einem Dach die bildende auf die darstellende Kunst trifft – und umgekehrt? Für dieses Experiment hat der Schweizer Künstler Andreas Krämer in seinem Wohnort Bremen ein besonderes Labor gefunden: In einem leeren Ladenlokal Am Brill 15-17 schaffen mehr als 30 Kreative vom 20. November bis 11. Dezember 2021 einen Kulturraum mit Kunst, Konzerten, Theater, Lesungen und Tanz. Das Programm dafür haben sie innerhalb von gerade mal drei Wochen gestemmt. Unsere Autorin Daniela Krause hat mit Initiator Andreas Krämer über die Vorbereitungen für das Projekt „Dimensional – Bremen – Wenn Kunst Kunst begegnet“ gesprochen.

Herr Krämer, wie ist das Projekt zustande gekommen?

Andreas Krämer: Die Idee, einen solchen Raum zu erobern, ihn zu bespielen und zu bebildern, habe ich schon lange. In diesem Jahr habe ich ein Stipendium von der Stadt und dem Land Bremen bekommen. Dieses wollte ich nicht für mein eigenes Projekt nutzen, sondern sozialverträglich gestalten, sprich andere Künstlerinnen und Künstler mit reinnehmen. Coronabedingt ist die Idee zu „Dimensional – Bremen – Wenn Kunst Kunst begegnet“ entstanden. Als ich im April angefangen habe, hatte ich noch keine Location. Da waren die Reaktionen: „Oh, wie interessant, aber wir können noch nicht zusagen.“ Das beschreibt ganz trefflich den Zustand unserer Gesellschaft, sowohl auf der Publikumsseite sowie auf der Seite der Künstlerinnen und Künstler.

Inwiefern?

Wir sind alle ein bisschen träge geworden und haben neue Gewohnheiten angenommen durch Corona: Stichwort „Netflix“, statt ins Theater zu gehen. Aus diesen Gewohnheiten müssen wir auch das Publikum wieder ins Theater einladen. Genauso war es aber auch auf der Seite der Künstlerinnen und Künstler.

Diese waren also auch eher abwartend?

Ja, das ist natürlich verständlich. Wer will im April Termine festlegen, die im Herbst stattfinden? Auf jeden Fall war es sehr stockend, und ich war auch viel unterwegs. Ich habe über den Sommer selber Theater gespielt, hatte im frühen Herbst noch die Dimensional-Ausstellung in Basel. Die Organisation war am Anfang also recht sperrig und anstrengend.

Im April kam der Kontakt mit der ZwischenZeitZentrale zustande. Und im September hieß es plötzlich: Guck dir mal Am Brill 15-17 an. Ich bin in diesen Raum und wusste: Das ist er. Die Konditionen haben gestimmt. Ab da hat es einfach geflutscht: Von Basel, aus der Galerie heraus, habe ich für Bremen organisiert wie blöde. Dabei ist ein Netzwerk entstanden von Menschen, die über ihre eigene Aufgabe oder ihren Auftritt hinaus anpacken, mitdenken, mitgestalten, ihre Ideen einbringen. Das ist eine große Hilfe.

Ich koordiniere das Ganze. Und irgendwie lösen sich alle großen Probleme, weil immer irgendjemand eine Idee hat, wie wir etwas bewerkstelligen könnten. Unser Grafiker Frank Schaub etwa hat innerhalb kürzester Zeit unsere Vorstellungen für einen Leporello umgesetzt, ihn in den Druck gebracht und die Verteilung mit organisiert.

Es passieren fast jeden Tag kleine Wunder. Wir brauchten zum Beispiel eine Bestuhlung. Ich hatte überlegt: Jeder Beteiligte bringt von zu Hause zwei Stühle mit. Da stupste mich eine Schauspielerin von der Seite an und meinte: Warte mal ab bis heute Abend. Und es meldete sich eine Eventfirma bei mir, die kurzerhand für die Kultur kostenlos 40 Stühle zur Verfügung gestellt hat. Das sind Vorgänge, die sind wunderbar.

Andreas Krämer, der Initiator des Projekts. Foto: Urban Roths

In Basel haben Sie die „Dimensional“-Ausstellung gemeinsam mit dem Künstler Urs Limacher Koechlin, der auch in Bremen dabei sein wird, in eine Galerie geholt, an einen etablierten Veranstaltungsort. Warum haben Sie sich in Bremen für ein leeres Ladenlokal entschieden?

Das hat damit zu tun, dass ich als Künstler immer bei Null anfange. In den letzten zehn Jahren habe ich versucht, mit Dingen umzugehen, die eigentlich für das, was ich vorhabe, gar nicht vorgesehen sind. Als Kunstmaler male ich zum Beispiel auf Untergründe, die gar nicht dafür gemacht sind, die aber eine eigene Geschichte mitbringen.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel Weinfassdauben oder alte Schubladen. Letzteres ist ein wunderbares Format. Also Dinge, die eine eigene Geschichte erzählen, die man vielleicht gar nicht kennt. Aber man nimmt diese Geschichte und führt sie in die Zukunft. Mir ist deshalb wichtig gewesen, dass wir einen Raum haben, in dem wir Künstlerinnen und Künstler uns in der größtmöglichen Selbstbestimmung in einem Wir-Gefühl entfalten können.

Was war denn in diesem Raum ursprünglich drin? Und wie möchten Sie ihn gemeinsam für Ihre Zwecke gestalten?

Bis vor anderthalb Jahren war da ein Werkzeugladen drin. Wir haben die Verglasung zur Straße Am Brill hin mit Bannern versehen, auf denen steht, wann dort was stattfindet. Wir haben die Leporellos und QR-Codes angebracht. Von außen sieht man: Hier wird was passieren. Am 13. und 14. November bestücken zehn Künstlerinnen und Künstler den Raum mit Bildern und Skulpturen.

An dem Raum selbst wird also nichts verändert?

Nein, es wird an dem Raum nichts verändert. In den Betonwänden sind Bohrlöcher und Spuren von Aufhängungen. Wir haben ihn sauber übernommen, aber er ist nackt und verbraucht. Das Ganze hat eine Pureness, etwas ganz Urbanes. Dieses mit unserer Kunst auszuschmücken und zu ergänzen, das gibt eine Tiefenschärfe, auf die ich sehr gespannt bin. Der Beleuchtungsmeister vom Theater Bremen Christian Kemmetmüller wird uns eine wunderbare Beleuchtung basteln. Die wird nicht perfekt sein können, weil die Räume und die Mittel das einfach nicht hergeben. Aber es wird ganz spannend sein, zu gucken, wie wir damit umgehen.

Ein nackter Raum, unendliche Möglichkeiten für die Mitwirkenden. Foto: Frank Schümann

Wie sind Sie bei der Zusammenstellung der Künstler für „Dimensional – Bremen“ vorgegangen?

Ganz wichtig war für mich die größtmögliche Durchmischung von Künstlerinnen und Künstlern, sowohl in der bildenden Kunst als auch in der darstellenden Kunst. Ich wollte einen großen Fächer aufmachen, wo ich einem wild durchmischten Publikum Einstiegsmöglichkeiten geben kann. Zu den Künstlerinnen und Künstlern bin ich auch durch Weiterempfehlung gekommen. Inzwischen hat es sich herumgesprochen. Leider müssen wir jetzt vielen Künstlerinnen und Künstlern absagen. Wir sind voll besetzt.

Gibt es denn Stücke oder Darbietungen, auf die Sie sich besonders freuen?

Ich freue mich auf jede Veranstaltung, auf jedes Bild und auf jede Skulptur! Das sind alles Perlen! Wenn ich ein Theaterdirektor wäre – ich wäre auf mein Ensemble extrem stolz!

Ich habe zum Beispiel einen wunderbaren, blutjungen Musiker dabei, Matti Weber, der sein erstes Konzert geben wird, elektronische Musik mit akustischen Elementen und Gesang. Ich freue mich wahnsinnig auf Christian von Richthofen, ein Schauspieler und Percussionist, bekannt aus seiner Rhythm’n’Crash-Show „Auto Auto!“. Der macht aus allem Klang – ein Teufel! Ich freue mich aber auch auf einen Matthias Boutros, der mit seinem Cello auftreten wird. Was der aus seinem Instrument bastelt, ist unglaublich. So hat man Cello noch nie gehört. Ich freue mich wahnsinnig, dass Denis Fischer kommt. Der ist eine Musiker-Größe.

Ich freue mich auf jede Veranstaltung, auf jedes Bild und auf jede Skulptur! Das sind alles Perlen!

Ich finde es aber auch ganz toll, dass getanzt wird. „Moving Cube“ wird da sein. Natalie Shtefunyk wird in eigenen Liedern und Gedichten von ihrer Reise aus der Ukraine in ihre neue Heimat Deutschland berichten. „Kaléko trifft Kästner“ mit Sabine Urban, Dirk Böhling und Hans-Jürgen Osmers wird sicher großartig. Ich freue mich, dass wir den „Messias“, eine Weihnachtsfarce, spielen können, der ja Kult ist in der Stadt. Ich freu’ mich auf „4712 – Das Wunschkonzert“ und last but not least auf zwei ehemalige Pressesprecher unter sich: Eine Lesung.

Es ist unglaublich vielfältig. Was neu dazugekommen ist und im Leporello deshalb leider nicht mehr berücksichtigt werden konnte, ist „Halftime“, eine junge Bremer Band, die nach Denis Fischer unser Abschlussfest/Finissage einrocken wird.

Sie selbst sind auch mit einer Darbietung vertreten: „Pianoworks for an Exhibition“. Was kann man sich darunter vorstellen?

Wir haben als Investition einen kleinen Flügel angemietet, weil es mehrere Abende gibt, an denen ein solch klangvolles Instrument gebraucht wird. Als Musiker habe ich vor ein paar Jahren angefangen, meine wichtigsten Kompositionen für Klavier zu bearbeiten und in einen Klavierzyklus zu packen, die an einem Abend zu hören sein werden. Darunter sind Stücke für Radioproduktionen, Hörbücher, Hörspiele Klanginstallationen, Bühnenmusik, Songs, Chansons und Kompositionen anstelle von Briefen.

Mit der Ausstellung, sagen Sie, haben diese Stücke direkt aber nichts zu tun.

Nein, die Kompositionen sind völlig unabhängig von Zeit und Ausstellung entstanden. Aber in dem Moment, in dem ich sie in diesem Raum spiele, entsteht eine Beziehung. Das ist die Grundidee von Dimensional: darstellende Kunst trifft auf bildende Kunst und bildende Kunst trifft auf darstellende. Was passiert also unter einem Dach, wenn diese zwei verschiedenen Kunstgattungen aufeinander treffen?

Was unterscheidet sie denn voneinander?

Wenn Sie zum Beispiel in der Ausstellung ein Bild oder eine Skulptur sehen, so ist das Werk vollbracht und der Urheber muss nicht zwingend anwesend sein, damit diese Kunst stattfindet. Bei der darstellenden Kunst verhält es sich anders. Sie muss immer wieder neu hervorgebracht werden: Ein Konzert, ein Tanzabend, ein Theaterstück, eine Lesung muss immer wieder neu entwickelt werden. Und mit dem letzten Klang eines Konzertes, mit der letzten Bewegung, der letzten Lichteinstellung oder dem letzten Wort eines Schauspiels beweist sich die darstellende Kunst darüber hinaus noch ihre Vergänglichkeit. Und wenn Sie diese zwei Komponenten in einem Raum stattfinden lassen, stellt sich die neugierige Frage: Was passiert mit unseren Wahrnehmungen, wenn wir in einem Raum, in dem wir Bilder und Skulpturen anschauen können und einen Klavierabend hören können? Was passiert mit unseren Empfindungen, den Kunstwerken, dem Raum, dem Publikum und was passiert mit den Künstlerinnen und Künstlern?

Es wird bei Ihrem Auftritt eine Besonderheit geben. Welche?

Bei meinem Konzert wird es keine feste Bestuhlung geben. Die Stühle werden im ganzen Raum verteilt stehen, weil ich möchte, dass das Publikum selbst bestimmt, wo es sitzen möchte, von wo es zuschauen möchte und welches Kunstwerk dabei angeschaut werden will. Zwischen den Stücken werde ich das Publikum bitten, nicht zu klatschen, sondern gegebenenfalls den Platz nochmal zu wechseln, auch mal zu stehen oder einfach innezuhalten. Das ist die Uridee hinter Dimensional. In Basel war das ein sehr schöner Abend. Deshalb bin ich ganz gespannt, was an diesem Abend in Bremen alles entstehen wird.

An allen Abenden ist der Eintritt frei. Stattdessen geht der Hut rum. Wie kommt es, dass sich die Mitwirkenden darauf einlassen?

Ja, das ist ein großes Wagnis. Gute Arbeit muss gutes Geld bringen. Kunst für umsonst gibt es nicht. Wir leben aber in Corona-Zeiten und um uns wurde es still. Da kam die existenzielle Frage hoch: Wie geht es weiter? Überleben wir das? Aber wie ich eingangs sagte: Auch wir Künstlerinnen und Künstler sind müde geworden. Wie kommen wir jetzt zurück, und wie kommt das Publikum zurück? Rein logistisch ist es ein großes Problem, einen Kartenverkauf zu organisieren. Man ist gewissen Zwängen ausgeliefert, die wir nicht bedienen können. Der große Gedanke ist, ein Sprungbrett zu sein für die Künstlerinnen und Künstler. Diese können beispielsweise bei uns Werbung machen für ihr nächstes Konzert und ihre CDs verkaufen.

Welche Erfahrungen haben Sie bisher mit dem Hut gemacht?

Die Erfahrung hat gezeigt, dass man unter Umständen mit dem Hut mehr Umsatz macht, als wenn man Eintritt verlangt hätte. Es ist einladender, großzügig in einen Hut einzuzahlen.

Es herrscht eine große Solidargemeinschaft unter den Künstlern. Eine Bedingung war, mitzuarbeiten in der Werbung. Das heißt, wir Künstlerinnen und Künstler verteilen in der Stadt und in unseren Kreisen insgesamt 10.000 Leporellos. Damit erreichen wir ein Bremer Publikum, das durchmischter nicht sein kann. So bringen wir Menschen, die sonst eher gerne in Ausstellungen gehen, die darstellende Kunst nahe. Und umgekehrt laden wir Menschen ein, die gerne auf Konzerte gehen, aber noch nie in einer Galerie waren, sich Bilder und Skulpturen anzuschauen, während sie der Musik lauschen. Und: Wir hüten unsere Ausstellung selber. Es ist ein Experiment, darum heißt es ja auch: „Wenn Kunst Kunst begegnet“.

„Dimensional – Bremen – Wenn Kunst Kunst begegnet“

Die Veranstaltungsreihe beginnt am 20. November 2021, um 15 Uhr mit der Vernissage und Eröffnung in den Räumlichkeiten Am Brill 15-17. Aktuelle Infos gibt es hier. Dort kann man sich auch das Programm in Form des Leporellos herunterladen.

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