Musikalisches Erweckungserlebnis

Im Jahr 1996 gastierte der norwegische Jazzmusiker Jan Garbarek mit dem Hilliard Ensemble im Braunschweiger Dom. Es war ein musikalisches Erweckungserlebnis. Das zugehörige Album „Officium“ ist das wichtigste im Leben unseres Kollegen Ulf Buschmann geworden – der zweite Teil unserer Serie über unsere Lieblingsalben.

Von Ulf Buschmann

„Jan Garbarek spielt bei uns im Dom“, sagte Torsten, einer meiner ganz engen Freunde zu mir, „anschließend gehen wir tanzen.“ Jan Garbarek kannte ich bis dahin nicht, aber was Torsten an Konzerten auftut, hat mich noch nicht enttäuscht. Also sagte ich zu. Ich ließ mich überraschen. Wobei: So ganz überraschend war es doch nicht, denn Torsten hatte mir verraten, dass es auch gregorianische Gesänge geben werde. Und dass das Konzert im Braunschweiger Dom stattfinden würde. Meine Neugierde war jetzt vollends geweckt, zumal ich auch noch nie im Braunschweiger Dom gewesen war. Ich konnte nicht ahnen, dass dieser Konzertabend einer intensivsten meines Lebens werden würde – und das Album „Officium“ von Jan Garbarek das wichtigste meines Lebens.

Es wird Zeit, mal wieder in das Album hineinzuhören. Der Norweger Jan Garbarek ist ein wirklich außergewöhnlicher Jazzmusiker. Er spielt seine musikalischen Linien extrem weich. Was ich damals noch nicht wusste: Jan Garbarek ist Saxofonist und einer der wichtigsten Jazzmusiker überhaupt. Er hat gegenüber dem amerikanischen Jazz einen europäischen Kontrapunkt gesetzt. Jan Garbarek wirkt auf diesem Album nicht als Alpha-Tier. Nein, der Norweger hält sich im Hintergrund. Um im Bild zu bleiben: Er hebt hin und wieder den Kopf aus der Herde und lässt sein Saxofon erklingen.

Der Musiker Jan Garbarek sitzt auf einer Couch.

Jan Garbarek ist eine der wichtigsten Jazzmusiker überhaupt. Foto: Guri Dahl

Wohlige Wärme

„Officium“ wird vor allem getragen von den fantastischen Partnern des Musikers: dem Hilliard Ensemble, das sich leider Ende 2014 auflöste. David James (Countertenor), Rogers Covey-Crump (Tenor), Steven Harrold (Tenor) und Gordon Jones (Bariton) singen wunderschöne mittelalterliche und frühneuzeitliche Motetten. Und das so intensiv, dass sie jedem Hörer gefühlt die Seele öffnen. Als ich die ersten Töne davon im Braunschweiger Dom hörte, durchströmte mich eine wohlige Wärme: So etwas Schönes hatte ich wirklich noch nie gehört. Als Jan Garbarek mit seinen weichen, stellenweise dominierenden Improvisationen dazukam, überwältigten mich die Gefühle – ich musste weinen.

Das Konzert von Jan Garbarek und dem Hilliard Ensemble fand Ende 1996 statt. Nach einer gerade überstandenen Krebserkrankung befand ich mich in einem emotionalen Ausnahmezustand. Ich geriet schnell an meine Grenzen, Tränen flossen hin und wieder reichlich. Aber diese Art mich überwältigender Gefühle hatte ich bis dato noch nie erlebt. Heute, mit dem Abstand von 25 Jahren, weiß ich: Es war nicht nur die Musik, es war der Zauber des Braunschweiger Doms – ein Zauber, den solch ein Gotteshaus naturgemäß auf mich ausübt.

Informationen über das Hilliard Ensemble auf einem PC-Bildschirm.

Zwar existiert das Hilliard Ensemble nicht mehr, doch es gibt Ihre Alben noch zu kaufen und Informationen im Netz. Foto: Ulf Buschmann

Alles ist wieder da

Dies alles hat sich tief in meine Erinnerung eingeprägt. Wenn ich „Officium“ heute in meinen CD-Spieler hineinschiebe oder wie jetzt beim Schreiben meines Textes über Spotify höre, sind alle Bilder wieder da. Auch die Tränen! Die Bilder im Braunschweiger Dom, in den mich mein Freund Torsten quasi gelockt hatte, sind alles wieder da. Ganz klar, in Ultra-HD. Die Buchstaben ergießen sich förmlich aus meinen Fingern auf die digitalen Blätter meines Textverarbeitungsprogramms.

Die Titel tragen – logisch – alle lateinische Namen. Für mich sind Namen in diesem Fall jedoch Schall und Rauch gewesen. Für mich zählt noch immer der musikalische Augenblick. Erst jetzt schaue ich genauer hin. Die erste der Motetten heißt „Parce Mihi Domine“, auf Deutsch: „Vergib mir Herr“. Bei Spotify kommt diese mit 9.041.031 Abspielungen auf den höchsten Wert des Albums. Schon dieses Arrangement hört sich wunderschön – und doch ist es nur so etwas wie eine Vorspeise.

Der Braunschweiger Dom von der Ostseite gesehen.

Im Jahr 1996 spielten Jan Garbarek und das Hilliard Ensemble im Braunschweiger Dom. Foto: PtrQs/CC BY-SA 4.0

Musikalische und emotionale Wellen

Die großen musikalischen und emotionalen Wellen rauschen ab dem zweiten Stück „Primo tempore“ („Erstes Mal“) über einen hinweg: Erst eine kleine Welle, dann eine etwas größere in Form von „Sanctus“ („Heilig“), „Regnantem sempiterna“ („Ewig regieren“) und den folgenden Stücken immer höhere – quasi ein musikalischer Kavenzmann nach dem anderen. Der Scheitelpunkt aller musikalisch-emotionalen Wellen ist mit „Virgo flagellatur“ („Eine Jungfrau wird gegeißelt“) erreicht: Die Sänger nehmen sich zurück und Jan Garbarek nimmt den kompletten musikalischen Raum ein. Es scheint, er rufe Gott an!

Danach entlassen Sänger und Saxofonist ihre(n) Zuhörer in die Welt. Doch nicht einfach so, im Gegenteil. Es gibt viele musikalische Streicheleinheiten, die Mut machen: „Fürchte Dich nicht!“

Unsere Lieblingsalben

Im ersten Teil unserer kleinen Serie schreibt Frank Schümann über seine Liebe zum „Boss“ Bruce Springsteen.

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