Bruce Springsteen & The E Street Band: The River (1980) und Born to Run (1975)

Listen mit den „besten Platten aller Zeiten“ gibt es viele; selten allerdings, dass diese zu den gleichen Ergebnissen kommen – Geschmack ist und bleibt eben subjektiv. Wobei: Manche Platten sind einfach außergewöhnlich gut. Einige davon wollen wir ab sofort in unregelmäßigen Abständen vorstellen. Den Anfang macht Frank Schümann, der sich zum Auftakt für gleich zwei Alben von Bruce Springsteen & The E Street Band entschieden hat: Für „Born to Run“ (1975) und „The River“ (1980).

Von Frank Schümann

Wer kennt sie nicht, diese Magic Moments in Verbindung mit der Musik? Ich hatte einen davon im Jahre 1980, einen ganz elementaren. Ich war 15, kam von der Schule nach Hause und hörte wie so oft nach dem Mittagsessen die „Plattenkiste“; ein NDR-Format mit einer Stunde Musik, das wir heute wohl als „altbacksch“ bezeichnen würden. Ich saß vor meiner Schneider-Stereo-Kompaktanlage und schickte mich an, die besseren Stücke aufzunehmen, als der Moderator meinte, jetzt käme ein ganz besonderer Song – der Titelsong des neuen Albums von Bruce Springsteen, das in den nächsten Tagen erscheinen würde, „The River“. Ich hatte von Springsteen gehört, kannte seine aktuelle Single „Hungry Heart“, den ersten Vorboten der Platte, fand sie gut und spannend genug, für einen weiteren Song dieses Mannes auf die Aufnahmetaste zu drücken.

Ein Plattencover von

Springsteens Album „The River“ aus dem Jahr 1980. Repro: Nord West Reportagen

„The River“ im Radio

Schon mit den allerersten Tönen packte mich dieses Stück: Die Mundharmonika, die zarte, aber einprägsame Melodie, die raue, leicht melancholische Stimme des Sängers – und natürlich auch der Text. Ich verstand mit meinen 15 Lenzen noch nicht alles, aber doch einiges, und mir war klar, dass mir dort eine Geschichte erzählt wurde, die nicht eben fröhlich war, aber doch packend – und irgendwie, das spürte ich in diesem ersten Moment bereits, von Bedeutung – und lehrreich fürs Leben. Kaum hatte ich den Song aufgenommen, spulte ich ihn zurück und hörte ihn immer und immer wieder. Bis heute ist er einer dieser Songs, an denen man sich nicht überhört, egal, wie oft er erklingt; und er erklang in meinen Leben verdammt oft. Ich wusste: Die Platte will ich haben, und die davor auch. Von dem will ich alles haben. Das ist übrigens bis heute so geblieben.

Mehrere Alben von Bruce Springsteen.

Vom „Boss“ wollte unser Autor alles haben – und ist bis heute ein fleißiger Sammler. Foto: Schümann

Doppel-LP zu Weihnachten

Einige Wochen später war Weihnachten, und ich bekam „The River“. Ich weiß noch genau, wie erhaben, ja, wie erwachsen ich mich fühlte, als ich nach dem gemeinsamen Weihnachtsessen und dem gemütlichen Beisammensitzen sagte, ich wolle jetzt in mein Zimmer gehen und die neue Platte hören, die noch dazu eine Doppel-LP war, wie man damals sagte. Meine Eltern waren einverstanden, und so ging ich denn, und hörte. Auf meinem Ikea-Sessel sitzend, einem so genannten „Kontiki“, riesige schwarze Kopfhörer an den Ohren, das Albumcover mit diesem nachdenklich wirkenden, kantigen jungen Mann auf den Knien lauschte ich und lauschte; 1. Seite, 2. Seite, 3. Seite, 4. Seite; die Texte las ich natürlich mit, alle, einen nach dem anderen. Was für Songs, was für Geschichten! Besonders die ruhigen Songs packten mich, „Independence Day”, „Point Blank“, „Wreck on the Highway“ und natürlich der Titelsong. Springsteen erzählte mir vom Leben, von jenem Leben, das mich auch erwartete und dem ich voller Vorfreude entgegenblickte – zwar nicht in den USA, sondern auf dem Dorf zwischen Bremen und Bremerhaven; aber egal, ich spürte: Mich betrifft das alles auch, oder es kann mich zumindest betreffen. Ich würde eines Tages wie Bruce feiern („Sherry Darling“), unterwegs sein („Drive all night“), vieles erleben („Out in the Street“), Sehnsucht spüren („Hungry Heart“), vielleicht sogar einmal einer Frau einen Antrag machen („I wanna marry you“).

Der Boss lehrt das Leben

Aber das Leben, und auch das lehrte mich Springsteen an diesem Heiligabend im Jahre 1980, hat auch seine Schattenseiten; es gibt Tote und Verletzte am Wegesrand („Wreck on the Highway“), Entscheidungen, die nicht immer zum Glück führen („The River“) und nicht zuletzt die Erkenntnis, dass alles, was wir tun, einen Preis hat („The Price you pay“). All das ahnte ich vorher schon – aber mit dem Hören dieser Platte, mit dem Lesen dieser Texte verdichteten sich diese Ahnungen.

Viel „Rock’n’Roll“

Aus heutiger Sicht gesprochen, aus Kritikersicht vielleicht sogar, würde ich sagen: „The River“ ist eine bärenstarke Platte, wenngleich musikalisch nicht seine beste – aber der Wert, den die Platte für mich hatte, auf dem Weg ins „Erwachsenen-Leben“, was auch immer das ist – der hätte nicht größer sein können; das Label „Lieblingsplatte“ trifft es absolut. Aber bleiben wir kurz beim Kritikerblick: Die 20 Songs von „The River“ sind im Grunde in zwei Kategorien einzuteilen – es gibt einerseits die ruhigen, von Country und Folk geprägten (namentlich überwiegend schon genannten) Titel und andererseits die Rock’n’Roll-Songs wie „I’m a Rocker“ oder „Ramrod“ (bis heute ein beliebtes Live-Stück der E Street Band); weder auf einer früheren noch auf einer späteren Platte hat der Boss so viel Rock’n’Roll gemacht wie hier. Er selbst haderte aber ein bisschen auf dem Weg zur Veröffentlichung: Zunächst war nur ein einfaches Album vorgesehen, für das die Reihenfolge sogar schon festgelegt war; nach einigem Hin und Her entschieden sich Springsteen, die Band und das Management für die längere Version (die einfache Version wurde übrigens im Jahre 2015 in der Box „The Ties That Bind: The River Collection“ veröffentlicht“).

Das Bruce Springsteen-Album

Ein Meilenstein: „Born to Run“ aus dem Jahr 1975. Repro: Nord West Reportagen

„Born to Run“

Doch zurück in die beginnenden 1980er-Jahre. Natürlich besorgte ich mir alles, was Springsteen vorher schon herausgebracht hatte und war erneut begeistert. War „The River“ für mich eine textliche Offenbarung und der wahrscheinliche Türöffner in die Welt der Musik, so haute mich kurze Zeit darauf ein weiteres Werk von Bruce Springsteen musikalisch regelrecht um: Es war fünf Jahre älter, hieß „Born to Run“ und hatte im Jahr 1975 bereits den Durchbruch Springsteens und seiner E-Street-Band zur Folge gehabt. Nach den 1973er-Alben „Greetings from Asbury Park, N.J.“ und „The Wild, the innocent and the E-Street Shuffle “ war „Born to Run” erst das dritte Album der Band, die darauf fulminant zusammenwuchs und den bis heute einzigartigen Sound schuf, mit großartigen Songs, fantastischen Breaks, toller Gitarren- und Pianoarbeit, präzisem und treibenden Schlagzeug und nicht zuletzt dem wunderbaren Saxofonspiel von Clarence „Big Man“ Clemons. Der Titelsong und „Thunder Road“ werden heute mit Recht oft zu den besten Songs aller Zeiten gezählt, „Jungleland“ als letztes Stück der Platte steht beiden kaum nach – und ein intensiveres Stück über Freundschaft als „Backstreets“ ist auch (wenn überhaupt) nur sehr selten geschrieben worden. Und dann noch dieses gesellschaftliche Signal auf dem Titel: Der zeigt Springsteen, wie er sich auf den Rücken von Clemons stützt. Ein Schwarzer und ein Weißer, in Freundschaft vereint auf einem aufklappbaren Schwarz-Weiß-Cover – das sorgte seinerzeit für großes Aufsehen.

Bruce Springsteen bei einem Livekonzert in Bremen.

Der „Boss“ im Jahr 1988 bei einem Konzert im Bremer Weserstadion. Foto: Guido Menker

Stetiger Begleiter

Mit diesem Album wurde Springsteen zum Star, zum Boss – mit „Darkness on the Edge of Town“ drei Jahre später (auch ein großartiges Album) verdichtete sich dieser Status; und weitere zwei Jahre später entdeckte ich mit „The River“ die E Street Band für mich. Bis heute sind Bruce Springsteen und seine Band für mich natürlich stetige Begleiter geblieben.

Ein bestes und ein Herzens-Album

Fragt man mich nach dem besten Album von Springsteen (und dem besten Album überhaupt, was für mich das Gleiche ist), würde ich sagen: „Born to Run“. Aber mein Herzensalbum ist und bleibt „The River“. Und jetzt, älter werdend, denke ich manches Mal zurück an diesen Weihnachtsabend im Jahre 1980, als diese Platte mir eine Ahnung davon gab, was das Leben so bringen könnte.
Das kann nur die Macht der Musik.

Noch mehr Springsteen

Bruce Springsteen spielt auch beim Lieblingsplatz unseres Autors eine Rolle: dem Bremer Weserstadion. Den Beitrag gibt es hier.