Weserstadion: Die ganze Palette des Gefühlslebens

Heute Abend steigt im Bremer Weserstadion (seit 2019 korrekterweise: Wohninvest Weserstadion) das große Nordderby zwischen dem SV Werder Bremen und dem Hamburger SV – erstmals in der 2. Liga. Unser Autor Frank Schümann wird dann wieder dabei sein; er besucht das Weserstadion seit vielen Jahrzehnten regelmäßig – und schreibt im Folgenden, warum es für ihn ein Lieblingsplatz ist. Trotz allem.

Von Frank Schümann

Lieblingsplatz – und dann ausgerechnet das Weserstadion? Ich habe schon den Satz zu hören bekommen: „Ist das nicht etwas einfallslos?“ Klar, kann man so sehen. Und trotzdem: Lieblingsplatz bleibt Lieblingsplatz! Oder wie sonst soll man einen Ort bezeichnen, an den man seit über 45 Jahren regelmäßig zurückkehrt, und nicht nur das: an dem man jubelt, sich freut, feiert, schimpft, leidet, trauert, sprich, die ganze Palette des Gefühlslebens zulässt? Dass in der jüngsten Vergangenheit eher die letztgenannten Attribute zum Tragen kamen – geschenkt, diese Geschichte soll hier nicht erzählt werden. Außerdem, weiß der geneigte Fußball-Fan, werden ja auch wieder bessere Zeiten kommen.

Bewegte Zeiten

Und bewegte Zeiten hat das Stadion schon einige gesehen: Der erste Vorläufer des heutigen Stadions entstand bereits 1909 in der Pauliner Marsch. Es wurde seinerzeit vom Allgemeinen Bremer Turn- und Sport-Verein erbaut; mit einem Neubau an gleicher Stelle entstand 1926 die erste große Tribüne, ebenso Umkleidekabinen und ein Restaurant. Seit 1930 trug der SV Werder Bremen dort seine Heimspiele aus, in dieser Zeit wurde es auch erstmals als Weserstadion bezeichnet. Durchgängig diesen Namen trägt das Stadion aber erst seit der Wiedereröffnung im Jahre 1947.

Flutlichspiel im Bremer Weserstadion.

Die Heimspiele von Werder Bremen unter Flutlicht haben stets etwas Magisches. Foto: Frank Schümann

Das erste Mal

Meine Geschichte mit diesem Stadion beginnt rund drei weitere Jahrzehnte später, an einem nasskalten Tag im Herbst 1975. Nachdem ich als gebürtiger Bremer die Ergebnisse des SV Werder schon seit einigen Jahren via Radio und ARD-Sportschau verfolgt hatte, durfte ich als Zehnjähriger endlich mal mit ins Stadion – ich erinnere mich an ein 0:0 gegen die Bayern, mit meinem Vater und meinem Onkel, die plötzlich sehr viel lauter waren, als ich es sonst von ihnen gewohnt war. Überhaupt die ganzen Menschen: Sie schrien wie verrückt, sprangen auf, zuckten, schimpften, heulten auf und zogen Grimassen.

Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Und was war eigentlich eine „schwarze Sau?“ Die Antwort kam schon mit dem nächsten Ruf: „Schiri, Telefon!“ Und da lachten sie, die Umstehenden. Dazu Bratwurst, Bier und Brezel, Stadionsprecher Christian Günther, dessen sonore Stimme ich schon aus dem Radio kannte, und eine allgemein großartige Stimmung, bereits vor dem Spiel. Ganz klar, auch wenn keine Tore fielen – ich war infiziert vom Fußballfieber, und ich liebte diesen Ort, liebte dieses Stadion vom ersten Augenblick an.

Frank Schümann im Alter von 14 Jahren.

Unser Autor im zarten Alter von 14 Jahren: Das Foto entstand 1979, im Hintergrund ist die noch unüberdachte Ostkurve zu sehen. Foto: Uwe Schümann

Ein richtiger Fan

In den folgenden drei Jahren sollte ich noch häufiger da sein, irgendwann durfte ich dann auch alleine ins Stadion –­ das erfüllte mich mit Stolz, endlich war ich ein richtiger Fan, ich gehörte dazu. Als Franz Hiller im Oktober 1978 das 1:0 für Werder gegen die Bayern schoss, jubelte ich bereits in der Ostkurve wie ein König; zwar konnte Rausch in der zweiten Halbzeit noch ausgleichen, aber dafür hatten wir noch einmal richtig Grund zur Freude, als Gerd Müller einen Elfmeter verschoss. 1:1 gegen Bayern, damit konnte man doch leben!

Fans vor dem Bremer Weserstadion

Tausende Fans pilgern ins Weserstadion – nicht nur zu Bundesliga-, sondern auch zu Zweitliga-Zeiten. Foto: Frank Schümann

„Assauer, Du Sau…“

Zwei Monate zuvor hatte ich an gleicher Stelle ein Erlebnis der besonderen Art: Beim 5:0 in der ersten Hauptrunde des DFB-Pokals gegen den SV Holzwickede hatten mir meine Eltern erstmals meinen vier Jahre jüngeren Bruder anvertraut, der damit auch seine Stadion-Premiere feierte. Das Spiel gegen den niedrigklassigen Gegner war solide und ungefährdet (Tore: Röntved, Röber und dreimal Klaus Wunder), doch dafür schüttete es wie aus Eimern. Wir standen in der Ostkurve und waren schon nach wenigen Minuten pitschenass. Erstmals erlebte ich dann, was die Macht des Zuschauers bedeutet: Lautstark skandierten die Fans, dass man doch die Tribüne für uns öffnen sollte, die angesichts des unterklassigen Gegners nicht ausverkauft war. Als nichts passierte, wurde die Stimmung aggressiver, und die Leute riefen: „Assauer Du Sau, Assauer Du Sau…“ Der „schöne Rudi“, wie er genannt wurde, war seinerzeit Manager bei Werder. Minutenlang erklangen die Rufe, wir machten natürlich mit. Und siehe da, es zeigte Wirkung: Die Tore öffneten sich, wir durften auf die überdachte Nordtribüne. Viele Jahre später sollte ich Assauer persönlich kennenlernen. Ich erzählte ihm die Geschichte, woraufhin er mich nur angrinste und trocken sagte: „Ich kann mich nicht erinnern, ich hab dich wohl nicht gehört.“

Jeden Tag beim Training

Der Sommer 1978 war ein besonders intensiver, was Werder und das Stadion betrifft: Fast jeden Tag fuhr ich mit dem Fahrrad den Osterdeich entlang, um zum Werder-Training zu kommen. Dann beobachtete ich mit einigen Gleichaltrigen, was die Mannschaft auf einem der Nebenplätze so trieb, anschließend holten wir uns Autogramme. Begehrt war vor allem das von Dieter Burdenski, der damals zweiter Nationaltorwart war, als besonders nett uns Kids gegenüber habe ich Benno Möhlmann und Jürgen Röber in Erinnerung. Linksaußen Dressel und Ersatztorwart Voss zofften sich dagegen andauernd. Nach dem Training warteten wir am Osterdeich, bis die Spieler aus den Duschräumen des Stadions kamen, die wir von außen sogar sehen konnten. Als Letzter kam meistens Vorstopper Norbert Siegmann, der ein paar Jahre später den zweifelhaften Beinamen „der Schlitzer“ erhielt – aber das ist eine andere Geschichte.

Frank Schümann im Weserstadion.

Ein Werder-Fan im Wandel der Zeiten: unser Autor, dieses Mal im Jahr 2014. Foto: Frank Schümann

Umzug auf’s Land

Im gleichen Jahr erlebte meine Geschichte mit Werder und dem Stadion einen „Knick“, denn unsere Familie zog auf’s Land, nach Hagen bei Bremerhaven. Das war zwar nicht endlos weit weg, für einen 13-Jährigen aber doch recht weit; ich war fortan auf meinen Vater angewiesen, wenn ich ins Stadion wollte. Ab und zu waren wir aber doch noch da, und einmal kam es zu einem ganz bitteren Moment: Bei einem Heimspiel im September 1979 erlitt Werder gegen den 1. FC Köln nicht nur einen böse 0:5-Klatsche, sondern mein Vater und ich erlebten auch noch in etwa ein bis zwei Metern Entfernung eine blutig endende Messerstecherei zwischen einem Köln- und einem Werder-Fan. Für meinen Vater war klar: Da fahren wir so schnell nicht wieder hin. Zumal es auch sportlich im wahrsten Sinne des Wortes abwärts ging – Werder musste am Ende der gleichen Saison erstmals den bitteren Gang in die zweite Liga antreten.

Bruce Springsteen singt auf der Bühne.

Der „Boss“ mit seiner E-Street-Band auf der Bühne im Weserstadion. Foto: Guido Menker

Der „Boss“ kommt!

Mein Vater machte seine Ankündigung leider wahr, und die Busverbindung zwischen Hagen und Bremen war seinerzeit auch nicht ideal; so wurden meine Besuche des geliebten Weserstadions also rarer. Im Februar 1980 organisierte der Hagener Sportverein zwar eine Fahrt zum Länderspiel Deutschland-Malta (8:0), das in Bremen stattfand; aber das war nicht das Gleiche, als wenn ich bei Werder gewesen wäre. So erlebte ich den Wiederaufstieg und die glorreichen ersten Jahre danach eher aus der Ferne mit. In den 80er-Jahren war ich wieder näher dran, sah unter anderem das grandiose 6:3 über Spartak Moskau – und konnte Tabellenführungen und Meisterschaften mitfeiern!

Fans im Weserstatdion 1988.

Tausende Fans aus Bremen und umzu kamen am 30. Juli 1988 zum Konzert von Bruce Springsteen ins Weserstadion. Foto: Guido Menker

Und noch etwas erlebte ich im Weserstadion: tolle Konzerte! Bruce Springsteen und seine E-Street-Band 1988 und 1999, die Rolling Stones 1998. Besonders die beiden Konzerte vom „Boss“ waren Höhepunkte der besonderen Art, auch das ist eine Liebe, die bis heute anhält. Aber auch das ist eine andere Geschichte. Zu dieser Zeit hatte das Stadion längst den Status eines ganz besonderen Ortes, an dem ich wie oben schon beschrieben meine gesamte Gefühlspalette ausleben durfte – und es bis heute tue.

Ein Leben lang – sprichwörtlich

Die Veränderungen des Stadions, die diesem aus meiner Sicht nicht immer gutgetan haben, die nachlassenden Leistungen meines Sportvereins, die Veränderung des Fußballs an sich – all das hat meiner Liebe zum Stadion, zu diesem Lieblingsort niemals Abbruch getan. All die großartigen Stunden, die ich dort verbringen durfte, mit Freunden, Kollegen, Partnerinnen, haben sich tief eingebrannt. Etwas pathetisch ausgedrückt: Ich wurde erwachsen im Weserstadion, und langsam werde ich alt darin. Der Fußball, der SV Werder, das Stadion – sie waren immer da, egal, was drumherum passierte.

Aufwärmen im Bremer Weserstadion.

Autor Frank Schümann erlebt den Zauber des Weserstadions sozusagen ganz aus der Nähe. Foto: Frank Schümann

Mittlerweile wohne ich ganz nah am Stadion, was sicher kein Zufall ist, und teile mir mit einem Kumpel eine Dauerkarte. Ost, natürlich, aber sitzend, nicht mehr stehend; man ist ja etwas in die Jahre gekommen. Bis heute ist es aber etwas Besonderes, wenn ich den Osterdeich entlang auf „mein“ Stadion zugehe und mir dort ein Bier und eine Bratwurst hole; das gehört nun mal dazu. Auch wenn das Stadion etwas anders aussieht als beim „ersten Mal“ vor 46 Jahren, so wie ich selbst auch: das wohlige Prickeln, das sich einstellt, wenn Werder-Lieder aus den Lautsprechern klingen, wenn es heißt: „Lebenslang grün-weiß, Werder wir komm‘ wieder…!“ – das ist noch dasselbe.

Unsere Lieblingsplätze

In loser Folge schreiben wir als Nord West Reportagen-Autoren über unsere Lieblingsplätze. Bislang sind Ulf Buschmanns Beitrag über den Stadtgarten Vegesack und Daniela Krauses Text über den Warwer Sand erschienen.