„Wir mussten Kartoffelschalen essen“
Wer waren sie? Wie haben sie gelebt? Wo kommen sie her? Es sind Fragen, die die Menschen bewegen, deren Vorfahren aus den ehemaligen Ostprovinzen des Deutschen Reiches kommen. Auch unser Kollege und Autor Ulf Buschmann gehört dazu – seine Ahnen kommen unter anderem aus Ostpreußen und Masuren. Seine Recherchen dokumentieren wir in den nächsten Wochen. Diese werden durch das Programm „Neustart Kultur“ der Bundesregierung ermöglicht.
Von Ulf Buschmann
Es beginnt in der Kindheit. Immer wieder einmal erzählen die Eltern: „Papa ist kein Bremer. Er wurde in Königsberg geboren und musste fliehen.“ Klar, dass der Vater die eine oder andere Frage beantworten muss. „Wir mussten von Kartoffelschalen leben“, berichtet er. Oder: „Wir waren lange mit dem Zug unterwegs.“ Lange im Zug und dieses Königsberg, das scheint etwas ganz Großes zu sein. Es ist die Geschichte des Heinz Buschmann, seiner Geschwister und seiner Eltern.
Und dann sind da noch die Großeltern Oma Toni Buschmann, geborene Meilutat, und Opa Otto Buschmann. Beide sind irgendwie immer da, aber auch nicht, denn sie starben schon 1963 und 1964 – wobei Oma Toni stets präsenter in den Erzählungen des Vaters ist. Zu den Geburtstagen und den Feiertagen ist ein Besuch auf dem Friedhof obligatorisch. Oma Toni, geboren am 21. Januar 1902 in Königsberg, liegt in einem Grab, Opa Otto, geboren 29. August 1906 in Lakellen, einem kleinen Dorf in Masuren, im anderen. Erst später wird klar, dass sie geschieden worden waren und deshalb getrennt beerdigt wurden.
Fluchtgeschichte als großes Thema
In den folgenden Jahren wird die Fluchtgeschichte des Vaters und seiner fünf Geschwister ein immer größeres Thema: Stück für Stück sprechen nicht nur er selbst, sondern auch der Bruder über diese schlimme Zeit. Dabei kommt zum Beispiel heraus, dass die Familie schon im Januar 1945 an Bord der „Wilhelm Gustloff“ gehen soll.
Aber die Mutter, Oma Toni, entscheidet: Es sei egal, ob die Familie auf diesem Schiff oder zu Hause verrecke. Auch der Umstand, dass Opa Otto in Königsberg einen Friseursalon hat, ist nicht ganz unwesentlich. Die Adresse der Familie in Königsberg lautet Schleiermacherstraße 56 – heute ul. Marshalla Borsow.
Aufzeichnungen im Stammbuch
Im Stammbuch der Familie hat Toni Buschmann die Fluchtgeschichte aus Königsberg aufgeschrieben: „Am 9. März 1945, 14 Uhr [sic] Abfahrt. Am 10. März 1945 vormittags Ankunft in Pillau, nachmittags mit der Fähre nach Pillau-Neutief. (Da hat’s kein Teufel ausgehalten! Ein Glück, daß wir Onkel Heinrich fanden, sonst wären wir verhungert! Erbsen mit Kartoffelschalen…zum Kotzen!!!) Am 26. März Abfahrt mit Marie Luise [sic]. Aheu!! [sic] 30. März schwerer Seegang. Alles war seekrank. Doris mit dem Daumen verunglückt! – Am 31. März Ankunft in Stralsund. Abfahrt per Zug. 2. April Ankunft in Schwanewede.“
Familie Buschmann kommt erst einmal bei einem der Bauern unter. Dieser hat Oma Toni sowie die Kinder Klaus, Doris, Anneliese Heinz und die damals Jüngste, Ilse, am Bahnhof Bremen-Blumenthal abgeholt. Heinz ist so schwach, dass er nicht mehr laufen kann. Ob er überleben wird, steht auf Messers Schneide. Der Bauer päppelt ihn mit Kuhmilch wieder hoch. Heinz kommt wieder zu Kräften.
Essen besorgen
Oma Toni ist in den kommenden Monaten umtriebig. Ihr geht es, wie Millionen von Menschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Oma Toni arbeitet beim Bauern. Sie wird mit Naturalien bezahlt: Milch oder Haferflocken. Auch den Ehering versetzt sie. Dafür bekommt sie einen Sack Korn, aus dem Haferflocken gepresst werden. Alles was zu versetzen ist, versetzt Oma Toni, damit die Familie etwas zu essen hat.
Ein neuer Abschnitt: Die Familie muss etwa 1946 das Privatquartier beim Bauern räumen. Toni Buschmann organisiert eine Wohnbaracke. Diese steht an der Einmündung der beiden Straßen „Damm“ und „Brink“ in Schwanewede. Die Adresse lautet „Damm 78“ nach der alten Zählung. Otto Buschmann kommt 1947 aus amerikanischer Gefangenschaft nach Hause. Aus einem der beiden Zimmer wird ein Friseursalon. Er verdient gut, doch durch Opa Ottos Alkoholkrankheit und den Verfall der alten Währung, der Reichsmark, bleibt von dem Geld nichts übrig.
Umzug nach Aumund
Sieben Jahre wohnt Familie Buschmann in Schwanewede. „Am 10. Juli 1953 Umzug nach Bremen Aumund [sic]“, steht im Familienstammbuch. Die Familie bekommt eine Wohnung an der Kaspar-Ohm-Straße 8 über die „Wohlfahrtsstiftung“ der Bremer Vulkan AG, Schiffbau und Maschinenfabrik. Auf der Werft lernt Doris, die älteste Schwester, Technische Zeichnerin. Laut Mietvertrag vom 29. Juni 1953 befindet sich die Wohnung im Erdgeschoss unten links, „bestehend aus 3+1 Zimmern und Zubehör, [sic] sowie 1 Boden- und 1 Kellerraum.“ Die Miete beträgt 48,85 D-Mark monatlich plus 3 D-Mark für „anteilige Wasserlieferung und anteiligen Stromverbrauch für Gemeinschaftseinrichtungen“.
So geht es weiter
Im zweiten Teil unserer Reihe gibt es ein Interview mit Heinz Buschmann über seine Fluchterlebnisse.