Unweit von Lakellen

Lakellen. Heute heißt der kleine Ort Lakiele. Es ist der Geburtsort von Otto Buschmann. Dort kam er am 29. August 1906 auf die Welt. Lakellen oder Lakiele ist ein kleines Dorf in Masuren unweit der Grenzen zu Litauen, Belarus und dem russischen Oblast Kaliningrad. Früher wie heute ist dieser Landstrich dünn besiedelt und wild romantisch. Genauso hat Siegfried Lenz Masuren in seiner Kurzgeschichtensammlung „So zärtlich war Suleyken“ beschrieben. Eine Erkundungsfahrt. Diese Recherche wird durch das Programm NEUSTART KULTUR der Bundesregierung und der VG Wort unterstützt.

Von Ulf Buschmann

Die Sonne steigt langsam über dem Horizont an den Himmel. Es verspricht, ein schöner und vor allem heißer Spätsommertag zu werden. Etwas mehr als dreieinhalb Stunden Autofahrt sind es von der Kaschubei aus. Ziel: Węgorzewo. Bis 1945 hieß es Angerburg. Der Ort liegt im tiefen Masuren, gleich am Mauersee, der heute Mamry heißt. Die schnellste Route führt über Elbląg, das frühere Elbing. Hier geht es auf den Straßen zu wie in jeder mittelgroßen Stadt Europas am frühen Morgen: Pendler sind auf dem Weg zur Arbeit. Dazwischen voll beladene Lkw.

Hinter Elbing jedoch beginnt das, was vielfach in der Natur beschrieben wird – es ist die Weite Masurens. Einer jener Literaten, der sich davon hat einfangen lassen, ist Siegfried Lenz. Seine Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel „So zärtlich war Suleyken“, erschienen 1955, ist eine einzige Liebeserklärung an Masuren. Nüchternere Beschreibungen zeichnen einen Teil Mitteleuropas, der dünn besiedelt ist.

Blick auf den Mauersee in Masuren.

Atemberaubende Einsamkeit: Der Mauersee unterhalb von Węgorzewo. Foto: Ulf Buschmann

Ankommen in Węgorzewo

In der Tat, dies fällt extrem auf: Kaum ein Auto ist auf den Straßen unterwegs, die Gehöfte stehen weit verstreut in der Landschaft. Das meistbenutzte Fortbewegungsmittel Masurens scheinen Traktoren mit Anhängern zu sein. Kein Wunder, es ist Ende September. Erntezeit. Aber große Landmaschinen scheint es hier auch nicht zu geben. Dafür zieht sich die Landschaft weit am Horizont hin. Und wer in den Himmel guckt, bekommt einen ersten Eindruck vom Faszinosum Masurens, das Menschen immer wieder aufs Neue begeistert: der Himmel.

Das Ziel ist erreicht. Die kalkulierte Fahrzeit passt genau. Auf dem Programm steht ein Treffen mit Vertretern der Stadt und des Kreises. Węgorzewo: Ein Wort, das schwer auszusprechen ist. Angerburg geht schneller über die Lippen. Węgorzewo ist das Zentrum des gleichnamigen Kreises. Die Kernstadt hat rund 11.000, die Gemeinde knapp 16.800 Einwohner. Bis zur Grenze des russischen Oblast Kaliningrad sind es nur rund 20 Kilometer. Litauen ist laut Navi 100, die Grenze zu Belarus etwa 200 Kilometer entfernt.

Beziehungen nach Rotenburg

Knapp 90 Minuten dauert das Gespräch mit den Offiziellen. Stadt und Kreis Węgorzewo pflegen seit den 1950er-Jahren intensive Beziehungen zum Landkreis Rotenburg (Wümme). Die hiesige Kreisgemeinschaft Angerburg wurde 1954 gegründet. Es herrschte Kalter Krieg zwischen Ost und West. Also war es das Ziel, die geistigen und kulturellen Traditionen zu pflegen. Bis heute haben sich die „Heimatpolitischen Tagungen“ und die Verleihung des Angerburger Kulturpreises gehalten. Inzwischen sind die Rahmenbedingungen ganz andere: Der Kalte Krieg ist vorbei, Deutsche und Polen gehören der EU an. Und seit dem Jahr 1992 sorgen jährliche Schüler- und Lehreraustausche zwischen dem Rotenburger Ratsgymnasium und dem Lyzeum Węgorzewo für Begegnungen der jungen Leute.

Ein Gedenkstein in Masuren.

Der Friedhof von Angerburg.

Piotr Wagner hat noch etwas Zeit, den Besuch zu einer Gedenkstätte zu führen. Der Blick über den Mauersee ist traumhaft. Aber der historische Hintergrund weniger. Die Gedenkstätte wurde bereits nach dem Ersten Weltkrieg angelegt. Ein unscheinbarer Grabstein für drei Männer des Kaiserlichen Heeres lassen die Schrecken von damals erahnen: Sie fielen bei den Kämpfen um Masuren am 10. Februar 1915. Ein großes Kreuz mahnt zum Frieden.

Die Touristen kommen

Heute ist Masuren das Ziel von Touristen aus ganz Europa. Hier ist es nicht überlaufen, aber es kommen so viele Besucher, dass die Branche durchaus bedeutend ist. Wenn, ja, wenn da nicht Corona wäre. Auf dem Weg zurück in die Stadt berichtet Piotr Wagner, dass er und viele andere Menschen durch die Schließung der Grenzen Anfang 2020 ihren Job verloren hätten. Bis zum Sommer habe sich die Lage längst nicht wieder beruhigt.

Ein Gedenkstein in Masuren.

Gefallen im Ersten Weltkrieg.

Und da gebe es noch etwas, was für die Region schädlich sei: Piotr Wagner meint die Stationierung der 2.000, vielleicht 3.000 amerikanischen Soldaten ganz in der Nähe von Węgorzewo. Die Aktion, verantwortet von der polnischen Regierung unter Leitung der PIS und dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump, habe sich negativ auf den kleinen Grenzverkehr und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Belarus und Polen ausgewirkt. Belarussen und Russen seien nervös geworden.

Stadthafen und Schloss Steinort

Der Dolmetscher verabschiedet sich. Wohin nun? Es geht hinter zum Stadthafen von Węgorzewo. Dieser ist erst vor einigen Jahren aufwendig saniert worden. Einige Sportboote dümpeln an diesem Vormittag im Hafen. Logisch, es ist mitten in der Woche und die Saison ist fast vorbei. Auch auf dem benachbarten Campingplatz ist nicht allzu viel los. Also weiter in die Stadtmitte. Leider ist die bis 1945 evangelische und heute katholische Pfarrkirche St. Peter und Paul heute geschlossen. Aber faszinierend ist das Gotteshaus schon.

Blick auf den Stadthafen von Węgorzewo.

Der vor einigen Jahren wieder eröffnete Stadthafen von Węgorzewo. Foto: Ulf Buschmann

Węgorzewos Bürgermeister Krzysztof Kołaszewski empfiehlt, sich auch an den anderen historischen Stätten in der Gegend umzuschauen. Der Weg führt also zuerst zu Schloss Steinort. Es war der Stammsitz der Adelsfamilie Lehndorff. Heinrich Graf von Lehndorff wurde 1944 wegen seiner Beteiligung am Attentat auf Adolf Hitler hingerichtet. Heute versuchen Deutsche und Polen, die in den vergangenen Jahrzehnten verfallene Anlage zu retten. Doch das ist leichter gesagt als getan. Imposant und schön muss es hier einst gewesen sein Schloss Steinort liegt gleich oberhalb des Mauersees. Die Front macht einen recht passablen Eindruck. Doch hinten gibt es viel zu tun.

Schloss Steinort in Masuren.

Schloss Steinort rund 20 Kilometer von Węgorzewo entfernt ist einer der vielen Orte mit wechselvoller Geschichte. Foto: Ulf Buschmann

Kleine Alleen

Auf dem Weg von Węgorzewo zum Schloss ist sie wieder da, diese merkwürdige Faszination Masurens. Die meisten Straßen sind alleeartig von Bäumen gesäumt. Links und rechts erstrecken sich weite Felder. Hin und wieder führt der Weg durch kleine Orte mit niedrigen Häusern. Schön für die älteren Menschen scheint es hier zu sein. Aber die Jungen, meint ein Einheimischer im Gespräch eher beiläufig, würden die Gegend verlassen. Und doch ist der Mann stolz: „Ganz in der Nähe lässt sich Robert Lewandowski eine Villa bauen.“ Der Top-Spieler, der sein Geld als Profifußballer beim FC Bayern München verdient und der für die polnische Nationalmannschaft aufläuft, scheint auch Gefallen an Masuren zu finden.

Bunker von Adolf Hitler.

In diesem Bunker in der Wolfsschanze lebte Adolf Hitler. Foto: Ulf Buschmann

Nächste Station: die „Wolfsschanze“, das „Führerhauptquartier“. Dieses wurde bei Rastenburg, heute Kętrzyn, aus dem Boden gestampft. Von hier aus wollte Adolf Hitler seinen Wahn vom „Lebensraum im Osten“ in die Tat umsetzen: In der „Wolfsschanze“ liefen alle Fäden des Kriegs gegen die Sowjetunion zusammen.

Gedenkstein in der Wolfsschanze

Das sogenannte Führerhauptquartier „Wolfsschanze“: Eine Gedenkplatte erinnert an das Attentat vom 20. Juli 1944. Foto: Ulf Buschmann

Eine Touristenattraktion

Heute ist es eine Touristenattraktion – doch völlig anders als sie es je in Deutschland sein könnte. Polen geht mit diesem Erbe etwas unverkrampfter um. Die „Wolfsschanze“ ist nicht nur eine Dokumentationsstelle des von den Nazis verursachten Grauens, sondern auch ein gewöhnlicher touristischer Ort mit Campingplatz, Sportanlagen und mehr. Auffällig viele Kinder sind auf dem Areal an diesem Tag unterwegs. Auf dem Campingplatz stehen diverse Caravane.

Ein Kartenausschnitt von Lakiele

Lakiele liegt an einer Nebenroute. Screenshot: Ulf Buschmann

Mittlerweile ist es Herbst 2021. Die Recherchen über die Ahnen der Familie Buschmann haben begonnen. Im Stammbuch steht Opa Ottos Geburtsort: Lakellen, heute Lakiele. Das kleine Dorf gehört heute zur Landgemeinde Kowale Oleckie im Powiat Olecki. Erst die intensivere Auseinandersetzung mit der Geschichte bringt es an den Tag: Knapp 60 Kilometer sind es bis zu dem Ort, wo Otto Buschmann das Licht der Welt erblickte. Aber das ist eine weitere Geschichte.

Auf der Suche nach den Ahnen

In unserer Reihe dokumentieren wir die Ahnenforschung unseres Autors Ulf Buschmann.

Erschienen sind bislang:

Dieses Projekt wird unterstützt durch das Programm NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und durch die VG Wort.