Ich habe es nicht glauben können

Am 24. Februar 2022 hat sich die Welt verändert. Das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat eine Großmacht ohne Grund einen Krieg vom Zaun gebrochen – Millionen von Menschen werden in den kommenden Wochen auf der Flucht sein. Und wie sieht die Zukunft aus?

Von Ulf Buschmann

Es ist Donnerstag, der 24. Februar 2022. Als der Wecker bei mir um 7 Uhr klingelt, steht die Welt in Europa schon rund drei Stunden kopf – Russland hat seinen Nachbarn, die Ukraine, angegriffen. „Militärische Spezialoperation“ nennt der Mann das, der dahinter steckt: Vladimir Vladimirowitsch Putin, der russische Präsident. Mir wird schlecht, das Frühstück fällt eher spärlich aus. Wobei: Im Rückblick habe ich damit gerechnet. Ironie der Geschichte: An diesem Tag habe ich einen Termin bei zwei Logistik-Bataillonen der Bundeswehr in Delmenhorst.

Der Termin an sich ist erst einmal nichts Besonderes: Generalmajor Gerald Funke, seit März 2021 Kommandeur des Logistikkommandos der Bundeswehr mit Sitz in Erfurt, empfängt uns. Ein kurzer Vortrag, dann werden wir Zivilbesucher zu fünf sogenannten Bildern geführt. Unsere Gastgeber zeigen uns ihre Aufgaben. Zwischendurch gibt es ein paar Interviews über die Unterschiede zwischen militärischer und ziviler Logistik.

NATO-Alarmpläne

Im Laufe des Tages wird es hektischer auf den Nachrichtenkanälen. Die erste Push-Mitteilung auf dem Smartphone kommt von Spiegel Online: Die NATO setzt ihre Alarmpläne in Gang. In den kommenden Tagen werden auch von der Bundeswehr mehr und mehr Kräfte nach Osten verlegt. Zwischen zwei Bildern erreicht mich von einer polnischen Kollegin das erste Video aus dem Krieg. Tote ukrainische Soldaten werden aus einem Auto gezerrt. Knapp zweieinhalb Minuten Grausamkeit in der Geschwindigkeit von Social Media.

In den kommenden Tagen begleitet mich dieses so unglaubliche Ereignis praktisch auf Schritt und Tritt. Ich mache mir Sorgen: Wie geht es der jungen Kollegin, die gerade im Herbst Belarus verlassen hatte und in die Ukraine ins Exil gegangen war? Wie geht es den Couchsurferinnen von vor einigen Jahren? Die beiden jungen Frauen tourten 2018 quer durch Europa. Inzwischen hat die Kollegin die Ukraine verlassen können und eine der beiden Couchsurferinnen ist in Polen.

Eine will nicht gehen

Nur die dritte Bekannte will ihr Land verteidigen. Wir schreiben uns täglich über einen der Messenger. „Wir bleiben und töten die Bastarde notfalls mit unseren nackten Händen“, antwortet sie mir auf meine Frage, ob sie und ihre Eltern die Ukraine auch verlassen wollen. Niemals werde sie das tun: „Es ist mein Zuhause, es ist mein Land. Sie müssen fliehen, und das werden sie tun.“ Mit „sie“ meint meine Bekannte die Russen. Ihre Worte flößen mir Respekt ein.

In der Nacht erreicht mich von meiner Bekannten eine Anfrage: Sie sammele Geld für eine kleine Gruppe der ukrainischen Nationalgarde, um Munition kaufen zu können. Ob ich auch etwas spenden könne? Auch die Zuwendungen meiner Freunde seien sehr willkommen, jeder Euro werde gebraucht. Diese Frage bewegt mich den ganzen Morgen. Am Ende entscheide ich mich dafür: Ich gebe Geld, damit sich die Ukrainer gegen einen Aggressor verteidigen können. Das hätte ich vor zwei Wochen bestimmt noch nicht gemacht.

Das Koordinatensystem verändert sich

„Wandel durch Annäherung“, Entspannungspolitik mit dem Osten – Begriffe der großen Politik. Mit denen bin ich aufgewachsen. Sie haben bislang auch mehr als eine Generation nach dem Fall der Mauer mein Denken und Wirken bestimmt. Und nun soll das alles nicht mehr zählen? Die zunehmende Brutalität des Krieges kaum 2.000 Kilometer von meinem Bremen entfernt lässt es vermuten. Und die steil nach oben gehende Zahl der Flüchtlinge auch. Während ich diese Zeilen schreibe, kommt per E-Mail eine Presseinformation nach der nächsten: Landkreis X sucht Privatquartiere für Ukrainer, Stadt Y organisiert einen Hilfsgütertransport.

Und was mache ich, außer für den Kauf von Munition zu spenden? Ich halte mein Gästezimmer frei für meine beiden Couchsurferinnen. Vielleicht entscheidet sich die Bekannte, die Invasoren mit bloßen Händen umbringen will, ja doch noch zur Flucht in letzter Minute. Ich schätze, ich warte noch eine Woche, dann gebe ich mein Gästezimmer frei. Oder mein Schlafzimmer und ziehe erst einmal ins Gästezimmer um.

Was bringt die Zukunft?

Natürlich frage ich mich: Wie wird die Zukunft der Ukraine aussehen? Wie reagiert Putin darauf, dass Russland isoliert ist? Ich glaube, am wahrscheinlichsten ist die Option, die Christian Mölling, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, im Deutschlandfunk beschrieben hat: Der Osten der Ukraine werde Russland einverleibt, im Westen bleibe ein Rumpfstaat mit einer Art Marionettenregierung. Langfristig jedoch würden die umfangreichen Sanktionen des Westens Wirkung zeigen. Ob Putin sich halten könne, dürfe bezweifelt werden.

Auch bei uns verändert sich etwas: 100 Milliarden für die Bundeswehr, eine Neuausrichtung der deutschen und europäischen Sicherheitspolitik. Ich habe die große Hoffnung, dass die Europäer endlich so viele Eier in der Hose haben, dass sie international geschlossen auftreten. Und die Menschen? Frühere Fluchtbewegungen zeigen: Ein großer Teil bleibt dort, wo sie Zuflucht gefunden haben. So war es nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der großen Flüchtlingswelle 2015 und jetzt wieder.