Zurückgefallen hinter die alte Ordnung

Unser Autor war 1991 das erste Mal in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Die noch bestehende Sowjetunion hatte sich gen Westen geöffnet, und eine neue Ära war angebrochen. Mehr als 30 Jahre später ist nicht nur Russland hinter die sowjetische Ordnung zurückgefallen. Dies gilt genauso für Belarus in Buschmanns Kosmos.

Von Ulf Buschmann

„Möchtest Du mit nach Weißrussland?“, fragte mich meine damalige Redakteurin der Bremer Kirchenzeitung. Es gebe da eine Erinnerungsfahrt in die Hauptstadt Minsk. Ich hatte bis dato nicht viel Ahnung weder von Weißrussland beziehungsweise Belarus noch von Minsk. Also besorgte ich mir Literatur und las mich ein. Das Internet gab es ja noch nicht! Danach verstand ich und sagte zu. Meine Redakteurin machte mir einen Kontakt und ich fuhr mit. Das war vor ziemlich genau 31 Jahren.

Wir Bremerinnen und Bremer wollten mit der Fahrt der Deportation der Bremer Juden ins Minsker Getto im Jahr 1941 gedenken. Aber es sollte auch um aktuelle Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft gehen. „Erinnern für die Zukunft“ war das Motto. Daraus ist noch im selben Jahr der Verein „Erinnern für die Zukunft“ entstanden. Übrigens waren wir Bremer die ersten Deutschen, die Minsk besuchten.

Brücken zwischen Ost und West

Vieles war damals möglich, die Menschen in Minsk hatten die Abschottung der Sowjetunion über Jahrzehnte hinweg satt. Jedes Quäntchen Information aus dem Westen saugten sie auf. Wir führten angeregte Diskussionen ohne Tabus. Ost und West knüpften Kontakte, es gab Hilfe für die Minsker und Belarussen. Denn die Sowjetunion hörte auf zu existieren, die Nachfolgestaaten wie Belarus, Russland und die Ukraine lagen am Boden.

Ich erinnere mich an unseren ersten Besuch der kleinen jüdischen Gemeinde in der belarussischen Hauptstadt. Wir trafen uns in einem kleinen Gebäude am Rande des früheren Gettos. Dieses hatten die Gläubigen eigenhändig zu einer Synagoge hergerichtet. Ich war schwer beeindruckt! Unsere Väter und Großväter hatten von 1941 bis 1943/44 mit deutscher Gründlichkeit versucht, alle Zeugnisse jüdischen Lebens zu vernichten. Und die Sowjets machten nahtlos weiter.

Deutsche, Russen, Belarussen, Ukrainer – die Länder und die Menschen waren bestrebt, Ihre Geschichte aufzuarbeiten. Es entstanden gemeinsame Einrichtungen wie das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk (IBB). Dort und über viele andere Stiftungen und Einrichtungen kamen sich Junge und Alte Stück für Stück näher. Wie gesagt: Vieles war möglich.

Die Zeiten ändern sich

Dass sich der sogenannte Eiserne Vorhang jemals wieder senken würde, dachte vor mehr als 30 Jahren niemand. Und schon gar nicht, dass Russland und Belarus unter der Herrschaft zweier alter Männer – Wladimir Waldimirowitsch Putin und Alexander Lukaschenko – jemals hinter die Ordnung der Sowjetunion zurückfallen würde. Wie speziell Lukaschenko, seit 1994 belarussischer Präsident, denkt, offenbarten der Welt spätestens die Proteste 2020 und 2021. Selbst Menschen, die seit vielen Jahren regelmäßig nach Minsk gereist waren, konnten nicht fassen, was seitdem in Belarus los ist.

Auch wenn sich schon seit 2014 Schwierigkeiten für westliche Organisationen bei der politisch-historischen Arbeit angedeutet hatten, gab es doch noch Nischen. Inzwischen sind auch diese Möglichkeiten so gut wie nicht mehr vorhanden. Diese ernüchternde Bilanz zog Dr. Iryna Kashtalian in diesen Tagen. Sie war zu Gast bei der Jahreshauptversammlung des Vereins „Erinnern für die Zukunft“ – eigentlich verkneife ich mir derartige Veranstaltungen.

Aber wenn eine promovierte Historikerin, die noch dazu im Bremer Exil lebt und an der hiesigen Uni als Postdoc-Stipendiatin forscht, etwas über die Lage in Belarus zu sagen hat, dann reizt es mich, der sich beruflich und privat viel mit Belarus befasst hat, doch. „Möglichkeiten historisch-politischer Bildung in Belarus heute. Aktuelle Bildungsprojekte der Geschichtswerkstatt Minsk“, hieß der Vortrag. Ein zugegebenermaßen extrem sperriger Titel. Besondere Brisanz bekam der Abend durch einen Überraschungsgast aus Minsk. Um ihn und seine Identität zu schützen, nannte er sich Sergej.

Die Lage in Belarus

Was er zu sagen hatte, war noch viel brisanter als die Ausführungen von Iryna Kashtalian. Zivilgesellschaftliche Proteste wie im Sommer 2021 gibt es nicht mehr. Hunderte von Menschen sitzen aus politischen Gründen in den Gefängnissen. Die Protestbewegung wird derweil mit den Nazis gleichgesetzt. Wie absurd! Kommt es doch einmal zu Demonstrationen, haut die Polizei drauf – schlimmer als in der Sowjetunion sei es, verdeutlichte Sergej.

Die Geschichtswerkstatt Minsk wiederum ist ein Projekt des IBB – eine wichtige Einrichtung, wie mir scheint. Denn die Geschichtsschreibung war schon in der Sowjetunion unmöglich und ist es laut Iryna Kashtalian noch immer. Aber spätestens seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist auch hier die Welt eine andere. Eine Lösung? Hier hat insbesondere Sergej eine klare Haltung: Lukaschenko und Putin würden nur die Sprache verstehen, die sie sprechen: die der Kraft. Das Wort Gewalt vermied er an diesem Abend. Dafür gab er uns etwas mit auf den Weg, was den Ausgang des Krieges angeht: „Wenn Russland gewinnt, verlieren wir alle. Deutschland auch.“

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