Schichten und Geschichten aufblättern

Mit der Stadtrauminszenierung „Kein Schiff wird kommen“ haucht Regisseurin Katrin Bretschneider dem ehemaligen Bremer Überseehafen temporär Leben ein.

Von Daniela Krause

Katrin Bretschneiders interaktiver Audiowalk „Shaking Hands With Ghosts“ beschäftigt sich mit der Geschichte der AG Weser. Jetzt hat die Autorin, Produzentin und Regisseurin mit ihrem Team erneut einen Klangspaziergang für einen „Ort des radikalen Wandels“ entwickelt: Die Stadtrauminszenierung „Kein Schiff wird kommen“ lässt den zugeschütteten Überseehafen im Geiste aufleben. Premiere ist am 21. September 2023 mit Startpunkt an der Blauen Manege in der Bremer Überseestadt.

Frau Bretschneider, was genau erleben wir bei Ihrer Stadtrauminszenierung „Kein Schiff wird kommen“?

Katrin Bretschneider: Das Publikum wird, mit Kopfhörern ausgestattet, über das Gelände des ehemaligen Überseehafenbeckens geführt. Es ist aber keine historische Führung, sondern eine künstlerische Inszenierung. Durch den Einsatz von Texten, Klangcollagen und O-Tönen wird die Vergangenheit des Ortes vor dem inneren Auge des Publikums heraufbeschworen und der radikale Wandel spürbar gemacht. Es geht dabei stark um Atmosphären und innere Bilder. Es geht auch nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch um die Gegenwart und die Zukunft.

Hafen-Schiffe-Bremen-Audiowalk

Noch gerade so zu sehen sind die Namen der letzten Schiffe, die 1994 und 1995 im Europahafen festmachten. Foto: Ulf Buschmann

Wie funktioniert die Technik hinter dem Audiowalk?

Das ist ein bisschen tricky. Alle haben den gleichen Kopfhörer, und es gibt einen Sender. Alle hören synchron das Gleiche. Und dann gibt es eine Person, die hat die verschiedenen Tracks auf dem Handy. Wenn es gut läuft, bemerkt man diese Person gar nicht, und auch die Übergänge nicht. Wie von Zauberhand wird man von A bis Z in einem Fluss hier durchgeführt. Dabei ist man nicht alleine, sondern geht gemeinsam.

Warum haben Sie sich den ehemaligen Überseehafen für einen Audiowalk ausgesucht?

Das hat sich entwickelt aus der Beschäftigung mit der AG Weser. Das war quasi das Vorgängerprojekt. Meine Eltern haben sich dort kennengelernt. Meine Mutter war mit mir auf dem ehemaligen Werftgelände, wo heute ein Einkaufszentrum steht und hat erzählt, wie es damals ausgesehen hat. Da habe ich das erste Mal eine Faszination entwickelt für diese Orte, die so einen starken Wandel erfahren haben. Der Überseehafen ist wieder so ein besonderer Ort, der irgendwie „nicht mehr und noch nicht ist“.

Ich spiele damit, dass ich an einem Ort bin, wo man von der Vergangenheit nichts mehr sieht, an dem ich aber durch die Sounds, Texte, Atmosphären, Musik und O-Töne von Zeitzeugen die Lücke schließe und die Leute dazu animieren kann, sich die Dinge im Kopf vorzustellen. Das hat mit der AG Weser sehr gut funktioniert.

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In der Überseestadt ist es das gleiche Prinzip: Ich starte den Walk ganz bewusst an der Brache, wo das Becken des alten Überseehafens zugeschüttet wurde. Ich stehe also auf Sand, sehe die modernen Häuser um mich herum, kenne die Schwarzweißbilder, habe ein pralles, vitales Bild vor mir, obwohl jetzt alles weg ist. Die Vergangenheit wird aber trotzdem noch benutzt. Etwa mit den Straßennamen und dem maritimen Flair, das ja auch ein Verkaufsargument für die Wohnungen hier ist. Die Vergangenheit lebt also noch weiter, obwohl davon eigentlich nichts mehr zu sehen ist.

Immer den Lotsinnen folgen. Sie kennen den Weg. Foto: Marianne Menke

Wie lange haben Sie an „Kein Schiff wird kommen“ gearbeitet, und wie aufwendig war die Recherche?

Im vergangenen Jahr gab es die Recherchephase. Richtig angefangen mit der Ausarbeitung der Stadtrauminszenierung haben wir ab März 2023. Für einen künstlerischen Prozess war die Recherche schon sehr aufwendig, wir waren zum Beispiel im Landesfilmarchiv, im Archiv vom Kulturhaus Walle „Brodelpott“, im Hafenmuseum Bremen sowie im BLG-Archiv.

Auf dem ehemaligen Hafengelände zu stehen und diese Art von Inszenierung zu erleben ist etwas anderes, als wenn ich mir eine Dokumentation auf Youtube angucke oder ein Buch lese.

Ich bin aber keine Historikerin. Historisch-wissenschaftlich bin ich deshalb nicht so tief eingestiegen, sondern habe immer aus der Künstlerinnenperspektive gearbeitet. Es geht mir darum, die verschiedenen Zeitebenen übereinander zu lagern, die Schichten und Geschichten dieses Orts nacheinander aufzublättern, um dann zu gucken: Was hat es mit dem Ort gemacht? Was macht es mit mir, wenn ich hier durchgehe? Und was hat das Ganze mit gesellschaftlichen Fragen zu tun? Wo stehen wir gesellschaftlich?

Wo stehen wir denn gerade gesellschaftlich?

Ich finde, wir sind an einem fragenden Punkt. Also nicht an einem Punkt, an dem es allgemein gültige Antworten gibt, sondern an dem es wichtig ist, die richtigen Fragen zu entwickeln, sich diesen zu stellen und gemeinsam in den Prozess zu gehen. Weder ich noch das Stück sind an dem Punkt, zu sagen: Ich weiß wie es geht. Das ist die Lösung. Aber ich finde, das ist auch nicht die Aufgabe von Kunst. Es geht darum, Räume zu öffnen, Fragen zu stellen und Impulse zu geben. Auf dem ehemaligen Hafengelände zu stehen und diese Art von Inszenierung zu erleben ist etwas anderes, als wenn ich mir eine Dokumentation auf Youtube angucke oder ein Buch lese. Und das ist das, womit ich arbeite: mit der körperlichen Anwesenheit der Leute inmitten der Häuser, auf der Brache, am Wasser.

Ein wiederkehrendes Element des Klangspaziergangs: das Wasser. Foto: Marianne Menke

Bei Ihrer Arbeit an „Kein Schiff wird kommen“ waren Sie nicht alleine. Sie hatten ein Team um sich, das Sie unterstützt. Wer hat in welchem Rahmen daran mitgewirkt?

Da gibt es verschiedene Kreise, wobei insbesondere der innere, künstlerische Kreis genannt werden muss. Da ist ganz wichtig Ilona Marti aus Berlin, die das Sounddesign macht und ganz wesentlich an der Entwicklung beteiligt war. Dann gibt es die Dramaturgin Christina Vogelsang aus Bremen, die sich total gut in der Überseestadt auskennt und mit mir am Konzept und am Text gearbeitet hat. Verena Ries ist verantwortlich für das Ritualdesign. Was das ist, erschließt sich bei dem Spaziergang. Da gibt es eine bestimmte Art von Interaktion, einen theatralen Rahmen, der geschaffen wird, der aber kein Mitmachtheater ist. Als Ritualdesignerin schafft Verena Ries, die übrigens auch Trauerbegleiterin ist, Räume und Möglichkeiten, gemeinsam etwas zu tun, also Rituale im künstlerischen Kontext zu verwenden.

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Möchten Sie im Anschluss an den Klangspaziergang mit dem Publikum in die Diskussion gehen?

Was ich mir wünschen würde, ist der Austausch des Publikums untereinander. Wer wünscht sich das nicht als Künstlerin, dass es irgendetwas bewegt, und dass die Leute dann miteinander darüber sprechen? Das ist schön, aber das muss nicht über mich laufen. Eine geformte Form von Publikumsgespräch gibt es nicht und ist auch nicht Teil der Veranstaltung.

Zum Schluss nochmal zurück zur AG Weser: Ihre Stadtrauminszenierung „Shaking Hands With Ghosts“ – wird sie für immer verfügbar bleiben?

Ja, auf jeden Fall. Unter dem Link www.shaking-hands-with-ghosts.de kann man alle Informationen finden. Man kann den Track downloaden, und es gibt eine Wegbeschreibung. Wichtig ist, dass man vor Ort ist. Es funktioniert nicht zuhause auf dem Sofa. Am Startpunkt ist eine Infotafel installiert, dann steckt man seine eigenen Kopfhörer in die Ohren, drückt auf Play und los geht’s. Das läuft noch, und das tut es auch für die Ewigkeit, als immaterielles Denkmal.

Termine zur Stadtrauminszenierung „Kein Schiff wird kommen“

21., 22., 23., 24. und 28. September, jeweils 18 Uhr
29., 30. September und 1. Oktober, jeweils 17.30 Uhr
Tickets unter www.nordwest-ticket.de, Telefon 0421/363636 und an der Abendkasse
Hinweis: Das Stück ist nicht barrierefrei, festes Schuhwerk und wettergerechte Kleidung werden empfohlen.

Zur Person

Katrin Bretschneider ist Autorin, Regisseurin und Produzentin. Sie hat Theater in Gießen und Hildesheim studiert mit anschließenden Stationen als Assistenz am Bremer Stadttheater und der Bremer Shakespeare Company. Gegenwärtig arbeitet sie in wechselnden Konstellationen an zeitgenössischen Theater- und Performanceformaten. Dabei agiert sie bewusst an den Schnittstellen zu Wissenschaft, Bildung und Alltag. In ihrer aktuellen Reihe künstlerisch verdichteter Audiowalks setzt sich die Künstlerin mit Orten des radikalen Wandels in Bremen auseinander.