Sehen durch die Augen eines anderen

Zum ersten Mal gab es bei der World-Press-Photo-Ausstellung 2023 eine spezielle Führung für Sehbehinderte. Sprecher Paul Beßler aus Salzgitter führte mit seiner Partnerin Annette Hahn-Arndt durch die Schau im Oldenburger Schloss. Wir durften die taubblinde Petra Leuning dabei begleiten.

Von Daniela Krause

Es ist ein eindrucksvolles Bild, das viele Teilnehmer nach der Führung durch die World-Press-Photo-Ausstellung 2023 im Landesmuseum für Kunst und Kultur in Oldenburg noch lange im Kopf haben werden – obwohl sie es nicht sehen können. Paul Beßler und Annette Hahn-Arndt führen die Gruppe sehbehinderter Menschen und ihre sehenden Begleiter vor das Bild „Battered Waters“ („Misshandelte Gewässer“). Das Foto von Anush Babajanyan zeigt drei Frauen, die auf den Stufen einer Art Wasserpyramide hocken, knien oder sitzen. Sie besuchen eine Quelle, die dem ausgetrockneten Bett des Aralsees entspringt. Einst war er der viertgrößte See der Erde, doch seit das Wasser für Landwirtschaft und Industrie abgezweigt wird, hat er 90 Prozent seines Inhalts verloren.

Selbstgebautes Brunnenmodell zur Veranschaulichung eines Brunnens im ausgetrockneten Aralsee

Anhand des Brunnenmodells begreifen die Sehbeeinträchtigten die Thematik des Bildes. Foto: Daniela Krause

Brunnenmodell mit Enkeln gebaut

„Die Dame auf der obersten Stufe schöpft mit beiden Händen das kostbare Nass aus dem Brunnen“, erzählt Paul Beßler. Es wirkt wie eine Verehrungszeremonie, wie sie dem Wasser huldigt. Die trockene, karge Sandlandschaft im Hintergrund bildet dazu einen sehr starken Kontrast. Ich habe ein Modell mitgebracht, das mehr vermittelt, als ich zu dem Bild noch sagen kann“, so der Sprecher. Petra Leuning, die von ihrer sehenden Freundin Irmtraut Warnken begleitet wird, betastet das Brunnenmodell, das Beßler gemeinsam mit seinen Enkeln gebaut hat. Auf dem Brunnen sitzen Playmobil-Figuren. „Schade, dass Sie das Wasser jetzt nicht fühlen können. Das wäre ein noch sinnlicheres Erlebnis gewesen“, sagt Paul Beßler.

Sprecher Paul Beßler hält einen Langstock neben ein Foto, das er den Sehbehinderten beschreibt.

Mit dem Langstock als Maßstab können sich die Sehbeeinträchtigten die Größe eines Bildes gut vorstellen. Foto: Daniela Krause

Langstock als Maßstab

Das Vorgehen bei jedem der insgesamt neun für die Sonderführung ausgewählten Werke folgt einem roten Faden: Nachdem Annette Hahn-Arndt den Kontext erklärt hat, in dem die Aufnahme entstanden ist, übernimmt Paul Beßler die Beschreibung: Menschen mit Sehbeeinträchtigung benötigen unter anderem Informationen über das Format, das mit Hilfe des Langstocks (Blindenstocks) vermittelt wird, aber auch Bildaufbau, Hintergrund, Farben, Richtung und Stimmung sind wichtig, um den Inhalt des Fotos besser erschließen zu können. Zusätzlich werden alle Personen und Gegenstände detailreich beschrieben – von Körperhaltung, Alter und Mimik über die Frisur bis hin zu Art und Farbe der Kleidung.

Imkerhut macht das Bild mit drei Imkern in der Wüste von Arizona begreifbar

Paul Beßler reicht einen Imkerhut herum, ähnlich wie die Kopfbedeckung der drei Imker auf dem Bild im Hintergrund. Foto: Daniela Krause

Astronauten oder Imker?

Die Idee mit den thematisch passenden Gegenständen kommt bei den Blinden besonders gut an. Bei der Führung wird auch ein Imkerhut herumgereicht, wie ihn die drei von Bienen umschwärmten Imker auf dem Foto „The Dying River“ von Jonas Kakó tragen: Alfredo, Ubaldo und José kämpfen in der Wüste von Arizona (USA) um das Überleben ihrer Bienen, denn auch diese brauchen Wasser. Die taubblinde Petra Leuning, die nur noch vier Prozent ihrer Sehkraft besitzt und dank eines Cochlea-Implantats wieder 75 Prozent hören kann, erkennt die Umrisse der drei Männer. „Zuerst dachte ich, es seien Astronauten“, sagt sie. Doch die Netzstruktur des Imkerhelms gibt ihr einen guten Eindruck von der Beschaffenheit der Imkerschutzausrüstung.

Paul Beßler raschelt mit einem Vorhang, zwei Frauen lauschen.

Das Rascheln macht deutlich: Ein Vorhang spielt beim nächsten Bild eine entscheidende Rolle. Foto: Daniela Krause

Ein Vorhang aus Folienstreifen

Dasselbe Prinzip mit der Haptik greift bei dem Foto „A Home for the Golden Gays“ von Hannah Reyes Morales, das einen alten Mann aus der LGBTQI+-Gemeinschaft in Südostasien zeigt. Er schaut den Betrachter durch einen bunten Vorhang an, wobei ein Auge verdeckt ist. Um die Beschaffenheit des Vorhangs zu verdeutlichen, hat Paul Beßler einen selbstgebastelten Vorhang aus Folienstreifen mitgebracht. Die Sehbehinderten können zwar die Farben nicht erkennen, aber sie hören das Rascheln und fühlen das Material.

Blindenhund

Auch ein tierischer Teilnehmer wohnte der Führung bei. Er verhielt sich die ganze Zeit vorbildlich ruhig. Foto: Daniela Krause

Etwas laut und der Weg ein bisschen holperig

Doch auch ohne haptische Hilfsmittel gelingt es Paul Beßler, die Fotos so zu beschreiben, dass sich Sehbehinderte ein Bild machen können. Am Ende der Führung freuen er und seine Partnerin sich über den Beifall. „Das haben Sie ganz toll erklärt“, heißt es aus den Reihen der Teilnehmenden. Auch Petra Leuning, die Selbsthilfegruppen für blinde und seherkrankte Menschen in Bad Zwischenahn, Delmenhorst und Oldenburg leitet, ist beeindruckt: „Die Beschreibung der Bilder fand ich sehr gelungen. Nur der Weg dorthin war etwas holprig und zeitweise war es auch etwas lauter, was an den vielen Besuchergruppen lag.“ Man habe tatsächlich spontan springen müssen, wenn der Andrang bei einem Bild zu groß war, bestätigt Paul Beßler. „Und die Unruhe konnten wir leider auch nicht verhindern. Dennoch war das Feedback überraschend positiv, so dass wir gerne wieder eine solche Führung anbieten, wenn auch vielleicht nicht gleich am ersten Tag nach der Vernissage.“

Eine demente alte Frau sitzt auf einer Bank, Frauen gehen um sie herum.

Dieses preisgekrönte Foto beschäftigt sich mit dem Thema Demenz auf dem afrikanischen Kontinent. Es war eines der neun erklärten Bilder. Foto: Lee-Ann Olwage

Zusammenarbeit mit Blindenverband

Claus Spitzer-Ewersmann von der veranstaltenden Agentur Mediavanti sieht die Führung für Menschen mit Sehbeeinträchtigung als optimale Ergänzung zum bestehenden Führungsangebot. „Im vergangenen Jahr haben wir erstmals zwei Führungen mit Gebärdendolmetscherin gemacht. Die sind sehr gut angekommen, auch weil es gemischte Führungen waren. Dann haben wir uns gefragt, was wir für Blinde auf die Beine stellen können und haben mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen die Sonderführung mit Paul Beßler organisiert, der sich sofort für die Idee begeistern konnte.“

Landesmuseum für Kunst und Kultur in Oldenburg

Die World-Press-Photo-Ausstellung ist noch bis zum 10. März im Landesmuseum für Kunst und Kultur zu sehen.

Mit einem Fußballspiel fing es an

Aber wie kommt man überhaupt auf die Idee, solche Führungen zu machen? Paul Beßler entschied sich nach einer Tischlerlehre und einem Studium der Innenarchitektur und des Designs für das Lehramt an Sonderschulen. Als der Fußballverein VfL Wolfsburg im Jahr 2003 einen Reporter für Menschen mit Sehbehinderung suchte, war Beßlers Interesse geweckt. In den folgenden Jahren berichtete er live über diverse Spiele, unter anderem in Berlin und Hannover.

Training im Museum

Seit zwölf Jahren reportiert er mit seinem langjährigen Kollegen Manfred Wildhage Aufführungen im Staatstheater Braunschweig. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Annette Hahn-Arndt trainierte Paul Beßler für die WPPA in einem Museum in Salzgitter. Neben dem Staatstheater stehen für die beiden in den kommenden Monaten weitere Termine im Kalender, etwa die Domfestspiele in Gandersheim, das Klatschmohnfestival und Führungen im Kunstmuseum für zeitgenössische Kunst in Hannover – alles, um Menschen mit Sehbehinderung kulturelle Veranstaltungen so nah wie möglich zu bringen.

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World Press Photo Ausstellung 2023

Die Ausstellung World Press Photo wird jährlich von der Agentur Mediavanti nach Oldenburg geholt. Sie zeigt die prämierten Bilder des weltweit größten und bedeutendsten Wettbewerbs für Pressefotografie. 2024 ist sie bereits zum neunten Mal zu Gast im Landesmuseum Kunst & Kultur. Zu sehen ist sie noch bis zum 10. März.

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