Sprache mit eigener Leichtigkeit
Norddeutschland ohne Plattdeutsch – undenkbar. Geschätzte 2,5 Millionen Norddeutsche sprechen die seit 1999 anerkannte Minderheitensprache. Etwa 1.200 Menschen sind noch des Saterfriesischen mächtig.
Von Ulf Buschmann
Auf dem Instagram-Kanal von Nicole Künnen ist wieder was los. Nach und nach schalten sich die Nutzer dazu. „Der platte Freitag“ oder „De pladde Freedach“, Hashtag #pladdefreedach, heißt es am Ende der Arbeitswoche. Jeweils eine Stunde lang lädt Nicole Künnen Menschen ein, Plattdeutsch zu schnacken. Nicht jeder Mensch schafft das. „Ich lerne noch“, entschuldigt sich ein Teilnehmer.
Oma Anni muss das nicht mehr. Sie ist mit Plattdeutsch aufgewachsen – wie Künnen. Sie habe es als Kind gehört und gelernt. In der Schule nahm Künnen unter anderem an Plattdeutsch-Lesewettbewerben teil. Sie ist nicht nur auf Social Media unterwegs. Seit 2019 berät Künnen im Auftrag der Regionalstelle Osnabrück der niedersächsischen Landesschulbehörde Lehrer, pädagogische Mitarbeitende und Ehrenamtliche aus dem Nordwesten in Sachen Niederdeutsch und Saterfriesisch. Zur Orientierung: Niederdeutsch ist der offizielle Name für Plattdeutsch.
Rund 2,5 Millionen Menschen sprechen in Norddeutschland noch Plattdeutsch. Es ist nicht etwa nur ein Dialekt, sondern wurde in die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen von 1998 des Europarates aufgenommen. Auch im Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten wurde Plattdeutsch als eigene Sprache aufgenommen. Dies war nicht immer so, im Gegenteil. Viele Jahrzehnte lang galt Plattdeutsch als Sprache der einfachen Leute vom Land. Wer Karriere machen wollte, sprach möglichst Hochdeutsch.
Einst Sprache der einfachen Leute
„Es war negativ besetzt“, sagt Reinhard Goltz, ehemaliger Geschäftsführer und einstiger Vorsitzender des Trägervereins des Instituts für Niederdeutsche Sprache (INS) in Bremen. Doch vor 20 Jahren habe sich der Wind gedreht. Auch junge Leute würden sich wieder für die Sprache interessieren, freut sich Goltz. Als Gründe dafür sieht er neben der Verabschiedung der Charta der Regional- und Minderheitensprachen eine „Verlusterfahrung“: Die Großeltern seien tot, jetzt fehle den Jungen etwas, das sie für sich erlernen möchten.
Dies hat nach Goltz‘ Überzeugung besonders mit dem Wandel in der niederdeutschen Kultur zu tun. Nicht das Traditionelle stehe im Vordergrund. Goltz freut sich, dass seit 2006 neue gute Kinderbücher erschienen sind. Und zwei Jahre später habe sich etwas in der Musik getan. Der Bremer Fachmann spricht von einem „neuen Typ plattdeutscher Lieder“. Als Beispiele nennt er das „Plattsounds“-Festival in Niedersachsen und die Bremer Formation „De 50 Penns“, die sich inzwischen aufgelöst hat.
„De 50 Penns“ wurden 2012 sogar mit dem renommierten Heinrich-Schmidt-Barrien-Preis zum Erhalt der niederdeutschen Sprache ausgezeichnet. Dabei, weiß Goltz, spiele Heimatbewusstsein bei den jungen Leuten keine oder nur eine geringe Rolle. Hierzu fällt ihm ein Zitat eines „De 50 Penns“-Mitgliedes ein: „Wir wollen nicht Plattdeutsch retten, wir wollen Plattdeutsch rappen.“
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Kartoffel auf Platt
In dieser Hinsicht unterscheiden sich Künnen und Goltz dann doch von den jüngeren Plattdeutsch-Fans – ihnen geht es um den Erhalt der Sprache, und dafür tun beide einiges. Goltz unterrichtet regelmäßig in der Grundschule Bremen-Schönebeck und Künnen ist nicht nur freitags auf Instagram live zu sehen, sondern ist auch auf Youtube und TikTok unterwegs. Auf Instagram hat Künnen 1.004, auf TikTok 4.256 Follower. Dort erklärt sie zum Beispiel Sprichwörter und Redewendungen – oder sie fragt wie im neuesten Video nach plattdeutschen Übersetzungen für die Kartoffel, wie Tüffel oder Potäschken. Und für die 502 Abonnenten auf Youtube gibt es Folge 11 der Zungenbrecher auf Plattdeutsch: „Plättbrett blifft Plättbrett!“
Im Gegensatz zu den großen Influencern nimmt sich die Community zwar bescheiden aus. Doch darauf kommt es Künnen nicht an. Ihr sei es wichtig, etwas für den Erhalt des Plattdeutschen zu tun – und dies gelinge ihr mit dem Social Media-Content. Künnen bestätigt im Wesentlichen die Beobachtungen von Goltz: Menschen von 18 bis 54 Jahren schauen sich die Kanäle an; darunter sind immer mehr junge.
Künnen ist nicht nur als Beraterin fürs Niederdeutsche unterwegs, sondern auch für eine Minderheitensprache, die nur noch ganz wenige Menschen sprechen: das Saterfriesische, das im Saterland gesprochen wird. Laut einer Umfrage von 1995 gab es noch 2.225 aktive Sprecher. Inzwischen, so vermutet Dr. Jörg Peters, Professor für germanistische Sprachwissenschaften und Niederdeutsch an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, dürfte ihre Anzahl noch bei rund 1.200 liegen.
Saterland: Neues Forschungsprojekt
Genauere Informationen hofft Peters durch sein demnächst startendes neues Forschungsprojekt zur Sozialkompetenz der drei Sprachen des Saterlandes, Plattdeutsch, Saterfriesisch und Hochdeutsch geben. Doch bereits jetzt kommt Peters zu dem Schluss: „Saterfriesisch ist eine sehr stark bedrohte Sprache.“ Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass „für die Schul- und Bildungspolitik viel mehr getan wird als früher“. Der Wissenschaftler vergleicht die aktuellen Rahmenbedingungen mit denen der 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre. Um das Saterfriesische und das Niederdeutsche langfristig zu erhalten, müsse jeweils vor Ort etwas geschehen, weiß Peters, „und das geschieht auch.“
Einer, der den ganzen Tag im Grunde genommen nichts anderes macht als Aktivitäten rund ums Saterfriesische beziehungsweise um den Erhalt der Sprache zu entfalten, ist Henk Wolf. In seinem kleinen Büro im Rathaus von Ramsloh, dem Verwaltungssitz der Gemeinde Saterland, versucht er unter anderem, Aktivitäten zu koordinieren und pflegt das Portal www.seeltersk.de. Darunter finden sich Lern- und Lehrmaterialien, aktuelle Informationen und vieles mehr. Dies alles macht Wolf im Rahmen seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Beauftragter für Saterfriesisch der Oldenburgischen Landschaft.
Auch wenn es die Sprache inzwischen sehr schwer habe, mache es ihm doch Mut, dass das Interesse am Saterfriesischen gewachsen sei. Dies habe auch mit der Vernetzung derer zu tun, die noch im Sinne der Europäischen Charta einer Minderheitensprache mächtig sind. Hierzu zählen die Nordfriesen, die Sorben, die Dänen in Schleswig-Holstein und die Friesen in den Niederlanden.
Noch wichtiger aber sei es, dass Saterfriesisch schon in den Familien gesprochen wird und die Kultur zu pflegen. „Wenn man eine Sprache wiederbeleben möchte, muss sie sichtbarer werden“, sagt Wolf. Als Beispiele nennt er außer den offiziellen Ortsschildern solche auf Saterfriesisch. Originell findet Wolf auch die Idee, öffentliche Sitzbänke mit saterfriesischen Sprüchen zu versehen – ein QR-Code liefert die hochdeutsche Übersetzung.
Saterfriesisch lernen nur in AGs
Ingeborg Remmers gehört zu den Menschen, die Saterfriesisch verstehen und unterrichten. Denn: Sie ist Lehrerin an der Grundschule Scharrel. Auf Saterfriesisch heißt diese „Litje Skoule Skäddel“. Ihre Muttersprache gibt es wie in allen Kindertageseinrichtungen (Kitas) und Grundschulen des Saterlandes als offene Arbeitsgemeinschaft. Bislang, so Remmers, sei es möglich gewesen, bestimmte Fächer wie Sport und Mathematik im Rahmen des sogenannten Immersionsunterrichts auch auf Saterfriesisch zu unterrichten. Voraussetzung: 100 Prozent der Eltern eines Jahrgangs stimmen zu. „Das hat einige Jahre geklappt, aber das funktioniert jetzt nicht mehr“, bedauert die Grundschullehrerin die Entwicklung. Immerhin: Gut die Hälfte eines Schülerjahrgangs nehmen an den Saterfriesisch-Arbeitsgemeinschaften teil. In der 1. und 2. Klasse seien es ganz viele Mädchen und Jungen, ab der 3. Klasse „trennt sich die Spreu vom Weizen“. Doch das alles reiche nicht, meint Remmers. Um Sprachen wie Saterfriesisch zu erhalten, „brauchen wir Fachunterricht“. Ideal seien zwei Unterrichtsstunden pro Woche.
Remmers springen zwei Menschen bei, die ihren Teil zum Erhalt der heimatlichen Sprache beitragen: Dagmar Heyens und Johannes Norrenbrock aus Ramsloh. Sie gehören zu einem kleinen Team Ehrenamtlicher, die dreimal jährlich ein Kneipenquiz anbieten. Es solle ein Instrument sein, Saterfriesisch zu sprechen. Heyens betont: „Es geht darum, die Sprache zu retten.“ Norrenbrock ergänzt: Dies sei aber nur durch mehr Kulturprogramme möglich. „Dazu brauchen wir die Halbaktiven.“
Der Mittelbau fehlt
Was die Saterfriesisch- und Plattdeutsch-Aktivisten verbindet: Es gibt so gut wie keinen Mittelbau. Beide Minderheiten-Sprachen beherrschen entweder nur Menschen über 70 oder die ganz Jungen. Was fehlt, sind die Leute zwischen 15 und 65 Jahren. Diese Altersspanne nennt Norrenbrock für Saterfriesisch. In Sachen Plattdeutsch indes dürfte es keinen großen Unterschied geben.
Fachmann Goltz vom INS ist überzeugt, dass Plattdeutsch eine Zukunft hat. Aber: Es nähere sich immer mehr dem Hochdeutsch an. Goltz sagt: „Der Anpassungsdruck ist sehr stark. Wörter, die anders sind als die Hochdeutschen, haben es schwer. Die Sprachdynamik zeigt aber, dass die Sprache lebt.“
Gleichwohl macht Goltz keinen Hehl daraus, dass Plattdeutsch als Sprache bedroht ist. Zwar sehe er in den Bildungseinrichtungen „hochinteressante Aktivitäten“. Aber: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass das Plattdeutsch in den Familien nicht gestärkt wird.“ Dies gelte trotz der nach wie vor hohen Wertschätzung für diese Minderheitensprache. Goltz glaubt einen der Gründe zu kennen: „Plattdeutsch hat eine eigene Leichtigkeit.“
Sprachherkunft und Materialien
Das Platt- oder Niederdeutsche ist aus dem Altsächsischen, Saterfriesisch aus dem Altostfriesischen hervorgegangen. „Wir wissen, dass das Altostfriesische in ganz Ostfriesland inklusive dem gehörenden Kreis Friesland gesprochen, im Land Wursten und Land Würden sowie in der niederländischen Provinz Groningen gesprochen wurde“, sagt Henk Wolf, wissenschaftlicher Beauftragter für Saterfriesisch der Oldenburger Landschaft. Altostfriesisch wurde langsam durch Plattdeutsch verdrängt. Nur im Saterland hat sich die eigene Sprache gehalten. Bis vor rund 70 Jahren sei Friesisch auch noch auf Wangerooge gesprochen worden, so Wolf. Die Plattform www.schoolmester.de des Vereins „Platt und Friesisch in der Schule” hält viele Angebote für Niederdeutsch und Saterfriesisch bereit. Auch das Portal www.seeltersk.de ist eine echte Fundgrube.