Das Geldstück aus dem Einkaufswagen
Dies ist die Geschichte von Thomas. Er hat jahrelange Drogenerfahrung, ist obdachlos und mit mir zur Schule gegangen – Beobachtungen in Buschmanns Kosmos.
Von Ulf Buschmann
Als ich an diesem Sonnabend aus meinem angestammten Verbrauchermarkt komme, spricht Thomas mich wieder an: „Herr Buschmann, haben Sie mal ein bisschen Kleingeld für mich?“ – „Ja“, sage ich, „das Geldstück, das im Schloss meines Einkaufswagens steckt, kannst Du haben.“ Der Mann schaut mich an und fragt: „Wir haben uns doch mal geduzt?“ Ich nicke. Wir sind zusammen zur Grundschule gegangen. Allerdings waren wir in Parallelklassen.
Thomas ist nicht sein richtiger Name. Den kenne ich natürlich, aber hier geht es um Persönlichkeitsrechte. Nach der Grundschule trennten sich unsere Wege: Thomas wechselte auf den Hauptschul-, ich auf den Gymnasialzweig des damaligen Gerhard-Rohlfs-Schulzentrums, jetzt Gerhard-Rohlfs-Oberschule und Gymnasium Vegesack. Doch irgendwann rutschte Thomas ab, wie er mir vor ein paar Jahren erzählte: Drogen, Obdachlosigkeit. Damals hatte Thomas gerade einen Job im Arbeitslosenzentrum Bremen-Nord bekommen. Jetzt heißt es Arbeit- und Lernzentrum.
Zugedröhnt in der City
Zu diesem Zeitpunkt war Thomas gut drauf. Er sei böse abgerutscht, aber jetzt habe er sein Leben im Griff und sei clean, berichtete er. Wenige Monate später sah ich ihn in der Bremer Innenstadt. Er schoss an mir vorüber und schien ziemlich dicht zu sein. Das war wohl nichts mit dem Leben im Griff haben. Ich verlor Thomas aus den Augen – bis vor etwa einem Jahr. Zuerst grüßte er mich etwas verlegen von Weitem, dann sprach er mich an: Ob ich mal ein bisschen Kleingeld hätte. Ich gab ihm das Klötergeld aus meiner Geldbörse.
Inzwischen kommt Thomas regelmäßig zu mir – immer dann, wenn ich in meinem Stadtteil Vegesack unterwegs bin. Aber auch ich gehe auf ihn zu. Und zwar immer dann, wenn er einen Packen „Zeitschrift der Straße“ im Arm hat. Ich kaufe das Magazin immer und gebe dem jeweiligen Verkäufer stets etwas mehr. Auch Thomas. Wenn er keine Magazine verkauft, sehe ich ihn oftmals nach Geld schnorren – wie bei mir an diesem Sonnabend. Seine Geldkarte habe nicht funktioniert, begründet er seine Frage nach Kleingeld.
Armut in der Fußgängerzone
Ich glaube es ihm nicht, aber ich gebe ihm trotzdem Geld. Das mache ich inzwischen nicht nur bei Thomas. Spätestens mit Beginn der Corona-Pandemie ist mir aufgefallen, dass Menschen nicht mehr nur im Stadtzentrum um Geld bitten. Auch in der Vegesacker Fußgängerzone sind Armut und Obdachlosigkeit sichtbarer als jemals zuvor. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, mich öfter mal meines Kleingelds zu entledigen. Das gebe ich Thomas und zwei anderen. Das hat sich so eingespielt. Sie sind höflich.
Meine kleinen Zuwendungen sorgen dafür, dass wir miteinander ins Gespräch kommen. Einer der Obdachlosen erzählt mir, dass er bis vor einigen Wochen eine Wohnung gehabt habe, diese jedoch habe räumen müssen. Dabei sei die Miete immer pünktlich überwiesen worden. Überprüfen kann ich das nicht. Bis vor etwa zwei Wochen schlief der Mann unter dem Vordach eines seit Langem leer stehenden Bekleidungsgeschäfts. Inzwischen ist der Platz mit einem Bauzaun abgesperrt. Mir fällt Thomas wieder ein. Ob er wohl irgendwo unterkommt?