Entscheidung über Schicksale

Nilgün Uzun-Wulfmeier engagiert sich seit zehn Jahren als Schöffin. Anlässlich der Schöffenwahl 2023 haben wir mit der Bremerin über ihr Ehrenamt gesprochen.

Von Daniela Krause

Gerechtigkeitsempfinden, Einfühlungsvermögen und eine gute Menschenkenntnis – diese Eigenschaften sollten Personen mitbringen, die sich für das Schöffen-Ehrenamt bewerben möchten. Bis zum 31. März 2023 kann man sich noch für diese verantwortungsvolle Tätigkeit melden. Der Bedarf an Laienrichtern ist gestiegen: Waren es in der laufenden Amtsperiode von 2019 bis 2023 noch 598 Schöffen und damit 1.196 Kandidierende, werden nun für die Wahl der Jahre 2024 bis 2028 insgesamt 812 Schöffen und somit 1.624 Kandidierende für das Land Bremen gesucht. Auf den Vorschlagslisten für die Schöffenwahl müssen immer mindestens doppelt so viele Kandidierende stehen als letztlich gewählt werden. Nilgün Uzun-Wulfmeier hat noch ein Jahr ihrer Amtsperiode vor sich. Im Interview erzählt sie, was Sie vor zehn Jahren dazu bewogen hat, sich als Schöffin zu engagieren, was sie bereichert hat und was sie nachts nicht schlafen ließ.

Frau Uzun-Wulfmeier, an welchen Ihrer ersten Fälle können Sie sich noch besonders gut erinnern?

Ein Jahr nach meinem ersten Einsatz als Schöffin hatte ich in Bielefeld einen größeren Fall vor der Großen Strafrechtskammer. Es ging um Mord, und das Verfahren war auf Indizien aufgebaut. Es war mühselig, zog sich über ein Jahr hin. Während dieser Zeit war ich schon nach Bremen gezogen und war drei bis vier Tage in Bielefeld bei Gericht, dann wieder in Bremen. Aber dieser Fall hat mich extrem berührt. In Erinnerung ist mir aber auch die gute Zusammenarbeit in Augenhöhe mit den Berufsrichtern geblieben. Als ich in Bremen war, wollte ich weitermachen. Ich fand es wichtig, dass sich jemand aus dem Volk einbringt und die Richter in der Urteilsfindung unterstützt. Wir ergänzen uns dabei sehr gut.

Was hat Sie dazu bewogen, Schöffin zu werden?

Nach meinem Studium war ich eine Zeitlang auf Jobsuche und wollte in dieser Phase nicht nur suchen, sondern mich sinnvoll einbringen. Zu Beginn meines Studiums bin ich zwei Perioden lang im Vorstand des Internationalen Begegnungszentrums in Bielefeld aktiv gewesen und habe erkannt, wie wichtig es ist, sich ehrenamtlich zu engagieren. Da ich Jura studiert hatte, war das Ehrenamt als Schöffin naheliegend für mich, auch wenn juristische Vorkenntnisse keine Voraussetzung für dieses Amt sind. Als Schöffin war ich noch näher dran am Prozess der Urteilsfindung und konnte anderen erklären, dass ein Urteil niemals eine willkürliche Entscheidung ist, sondern von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Hinzu kam, dass ich als Gastarbeiterkind das große Glück hatte, studieren zu können. Und wenn ich etwas von der Gesellschaft bekomme, dann will ich ihr auch etwas zurückzugeben.

So manchem Besucher des Gerichtsgebäudes erscheint dieser Flur endlos lang. Foto: Justiz Bremen

Wie schaffen Sie es Beruf, Privatleben und Ehrenamt miteinander zu vereinbaren?

Ich bin von Beruf Personaldienstleistungskauffrau. Ein gutes Organisations-Management ist wichtig, um alle drei Lebensbereiche gut miteinander zu vereinbaren. Nur so kann ich ebenso bei der Betreuung meines Vaters, der in Bielefeld lebt, mithelfen. Das meiste an Terminen kann ich telefonisch organisieren. Zudem bringe ich mich aktiv in die Politik im SPD-Ortsverein Walle ein, was natürlich auch mit Veranstaltungen verbunden ist. Da der Großteil meiner Familie in Bielefeld lebt, habe ich mehr Zeit zur Verfügung, die ich wiederum in meine politische Tätigkeit investieren kann. Außerdem habe ich einen Mann an meiner Seite, der das alles mitmacht. Das ist wichtig. Denn wenn man die Unterstützung der Familie nicht hat, sehe ich da ein großes Problem.

Es heißt, zwölf Sitzungstage im Jahr sind Schöffen zumutbar, wobei eine Sitzung aus mehreren Verhandlungstagen bestehen kann. Wie zeitintensiv ist dieses Ehrenamt für Sie?

Ich kann so pauschal gar nicht sagen, wie viel Zeit ich aufbringen muss. Es kann auch mal vorkommen, dass ich ein ganzes Jahr lang nicht eingesetzt werde. Das liegt daran, dass ich Ersatzschöffin bin und die Hauptschöffen ihre Sitzungstermine immer für das ganze Jahr im Voraus erhalten. Aber Termine können verschoben werden oder die Hauptverhandlung wird ausgesetzt. In diesen Fällen werden wir Ersatzschöffen durch ein Losverfahren eingesetzt. Es gibt auch Phasen, in denen lange Gerichtsverfahren mit mehreren Verhandlungstagen hintereinander anstehen, was dann entsprechend Zeit kostet.

Wie hat Ihr Umfeld damals reagiert, als Sie verkündet haben, Schöffin werden zu wollen?

Meine Eltern fanden das toll. Mein Bruder meinte nur: „Das passt zu dir. Du bist ein Ehrenamtstyp.“ Er konnte sich selbst eine solch zeitintensive Aufgabe nicht vorstellen und deshalb meine Entscheidung damals auch nicht nachvollziehen. Aber gefragt hat er später schon, wie das Dasein als Schöffin so ist. Und jetzt könnte er sich sogar selbst vorstellen, Schöffe zu sein. Ich kann nur sagen: Es ist interessant und für mich extrem bereichernd. Ich lerne die Stadt besser kennen, die Menschen, die Brennpunkte, schärfe meinen Blick, die Sinne und bekomme einen intensiven Einblick in die Bremer Gesellschaft, wie ja auch schon durch meine politische Arbeit.

Wie bereiten Sie sich auf einen Sitzungstag vor?

Ich hole abends meine Sachen raus, die ich am nächsten Tag anziehen werde, vorzugsweise in gedeckten Farben. Außerdem bin ich ausgeschlafen und habe gut gefrühstückt, da ich nicht weiß, wie lange der Termin dauert. Wir haben vorher keinerlei Informationen, da diese vor der Verhandlung nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Es darf auch vorab niemand wissen, welche Richter und Schöffen einem Fall zugewiesen wurden, da dies den Prozess beeinflussen könnte. Ich gehe völlig unvoreingenommen in eine Verhandlung. Es ist, als ginge ich mit einem leeren Blatt in den Gerichtssaal. Das höchste der Gefühle ist, dass die Kammer genannt wird, die Raumnummer erfahren wir erst vor Ort. Genauso, welchem Vorsitzenden wir dort zugeteilt sind und mit welchen Beteiligten wir zusammenarbeiten werden.

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Sie helfen den Richtern als Schöffin bei der Entscheidung für ein Urteil. Haben Sie danach schon mal grübelnd im Bett gelegen, ob das Strafmaß so angemessen war?

Das habe ich meist vorher, bevor wir uns zum Endgespräch zusammensetzen. Vor der Urteilsverkündung und der letzten ausgesprochenen Meinung habe ich oft eine schlaflose Nacht. Dann fange ich an, in meinen Unterlagen zu blättern. Ich weiß noch, bei einem Prozess, bei dem es um eine Tötung ging, habe ich fünf Stunden damit verbracht. Ich habe mich in der Verantwortung gesehen, noch einmal hinzuschauen, alles Revue passieren zu lassen und eine angemessene Entscheidung zu finden. Ich schaue mir auch die Angeklagten und die Geschädigten ganz genau an: Was lief da in dem Prozess? Wie standen diese Menschen zueinander?

Ich würdige zusammen mit den Berufsrichtern die Aussagen der Verfahrensbeteiligten, insbesondere von Zeugen und Sachverständigen: zum Beispiel, ob die Aussagen in sich schlüssig und ob die Zeugen glaubwürdig sind. Da kommt es auf die Meinung eines jeden Schöffen an.

Um einen umfassenden Überblick zu bekommen, worauf man achten sollte, werden kostenlose Kurse von der Deutsche Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen (DVS) angeboten, die ich nur jedem angehenden Schöffen empfehlen kann, weil sie für diese Aufgabe wirklich hilfreich sind.

Welcher Fall hat Sie bisher am meisten beschäftigt und weshalb?

Das war ein Fall, bei dem ein Mann seine Partnerin bis zur Unkenntlichkeit geschlagen hat, sodass diese auch an den Folgen starb. In solchen Fällen schauen wir uns das Beweismaterial an, wie Fotos und Videomaterial. Meistens aufgenommene Bilder von dem Opfer, von dem Tatort. Dann haben wir die Gutachter, die über den Zustand, die psychische Verfassung berichten, aber zum Beispiel auch, ob der Mensch unter dem Einfluss von Rauschmitteln gestanden hat. Dieser Fall hat mich sehr mitgenommen und ich habe dem Berufsrichter auch gesagt, dass ich Schlafprobleme hatte. Sobald ich die Augen zumachte, sah ich die Bilder. Durch die falltechnischen Dokumentationen, die wir während des Studiums gesehen haben, dachte ich, ich wäre entsprechend abgehärtet. Aber, Pustekuchen! Als ich diese Bilder im Gerichtssaal gesehen habe, war ich noch gefasst, aber zu Hause bin ich zusammengebrochen. Zum Glück gibt es, das erfuhr ich erst hinterher, eine Supervision, an die man sich wenden kann, wenn man mit einem Fall solche Probleme hat. Dort erhält man psychologische Unterstützung.

Blick in den großen Sitzungssaal des Landgerichts Bremen. Foto: Justiz Bremen

Wie gelingt es Ihnen, sich von solch schweren Fällen emotional zu distanzieren?

Ich versuche anfangs die Bilder zu verdrängen. Das ist aber der falsche Weg. Dann darf ich ja mit niemandem darüber sprechen. Das höchste der Gefühle ist, dass ich sage: „Das war so schrecklich. Lies dir doch mal bitte diese Pressemitteilung durch, dann kannst du dir vorstellen, was es ist.“ Ich möchte das aber für mich selber professionell klären und niemand anderen damit belasten.

Mit welchen verschiedenen Fällen hatten Sie es bislang zu tun?

Hauptsächlich waren es bisher Strafrechtsfälle: Bagatelldelikte, Körperverletzung, sexueller Missbrauch, Totschlag, Mord, Diebstahl, Raub, Dealen mit Betäubungsmitteln. Einige Fälle wiederholen sich leider auch immer wieder. Da macht man sich schon Gedanken, wie es in unserer Gesellschaft aussieht. Aber jeder Fall ist eine komplett neue Herausforderung. Man hat immer einen anderen Sachverhalt und neue Personen, die daran beteiligt sind. Es gibt Täter, die sind eiskalt und zeigen keine Regung, dann gibt es wiederum welche, die brechen zusammen und heulen.

Haben Sie denn auch einen Fall positiv in Erinnerung?

Ja, ich erinnere mich an einen Fall, bei dem es um Sachbeschädigung unter Einnahme von Betäubungsmitteln ging. Alle Geschädigten hatten gesehen, in welchem Zustand der Täter gewesen ist, aber auch, wie positiv der Täter sich seitdem verändert hat. Sie haben zwar ihre Anzeigen gemacht, waren aber am Ende versöhnlich. Das war ein schönes Bild, und ich bin lächelnd aus dem Gerichtssaal gegangen.

Welche Eigenschaften sollte man als Schöffe mitbringen?

Man sollte in der Lage sein, vorurteilsfrei und unvoreingenommen in eine Sitzung zu gehen und dies durchweg so beizubehalten. Eine gewisse Empathie ist auch wichtig, dass ich einschätzen kann, wie sich Personen während der Verhandlung verhalten. Es ist ein sehr verantwortungsvolles Ehrenamt, das man ernst nehmen und mit Herzblut ausführen sollte. Das Urteil ergeht immer im Namen des Volkes. Wir entscheiden als Schöffen in der Hauptverhandlung gleichberechtigt mit über Schicksale und müssen uns bewusst sein, was wir mit dieser Entscheidung bewirken können.

Schöffenwahl 2023

Alle Infos zur Wahl sowie zu Rechten und Pflichten der Schöffen gibt es hier und hier zum Weiterlesen.

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