Das vergessene Kapitel
Die polnische Gewerkschaft Solidarnoćź unterhielt von 1982 bis 1984 ein Koordinationsbüro in Bremen – darüber hat der Historiker Rüdiger Ritter ein umfassendes Buch geschrieben.
Von Ulf Buschmann
Eduard-Grunow-Straße 2 in Bremen: Die schmucklose Straße zwischen dem Rembertikreisel und Am Dobben schrieb in den frühen 1980er-Jahren Zeitgeschichte. Dort hatte Solidarnoćź, die erste polnische unabhängige Gewerkschaft seit 1945, vom 17. April 1982 bis 15. September 1984 ein Koordinationsbüro. Über dieses Stück bremischer und polnischer Geschichte hat der Osteuropahistoriker Rüdiger Ritter ein umfassendes und faszinierendes Buch geschrieben. In „Solidarität mit Schwierigkeiten“ beschreibt Ritter auf 332 Seiten die Irrungen, Wirrungen und Gerüchte rund um das Büro sowie die Beteiligten. Unaufgeregt widerlegt er Gerüchte, die sich bis in die Gegenwart gehalten haben. „Solidarität mit Schwierigkeiten“ ist in der Edition Falkenberg erschienen und kostet 19,90 Euro.
Eigentlich wollten sich die Vertreter der Solidarnoćź bei einem fünf Tage dauernden Arbeitsbesuch über Themen informieren, die Arbeitnehmer beziehungsweise Gewerkschafter betreffen. So war es zwischen dem Geschäftsführer der Arbeiterkammer Bremen, Walter Franke, und Alojzy Szablewski vereinbart worden. Szablewski war zu diesem Zeitpunkt der zweite Mann der Solidarnoćź hinter ihrem starken Mann Lech Walesa. Anmerkung: Die Arbeiterkammer wurde 1999 mit der Angestelltenkammer zur Arbeitnehmerkammer Bremen verschmolzen.
Doch es kam alles anders: Aus dem Arbeitsbesuch wurde schon nach kurzer Zeit ein Politikum. Hintergrund: Nachdem sich die Solidarnoćź im August 1980 offiziell gegründet hatte und großen Rückhalt in der Bevölkerung genoss, wollte die polnische Regierung auf Geheiß der sowjetischen Führung den Spuk beenden. Deshalb wurde am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht ausgerufen. Armeegeneral Wojciech Jaruzelski war ab sofort der starke Mann an der Spitze der polnischen Kommunisten und des Staates.
Sie wussten von nichts
Während die kleine Delegation der Solidarnoćź nichtsahnend von Danzig über Posznan unter der Leitung von Kazimierz Kunikowski nach Bremen reiste, besetzten Soldaten alle strategisch wichtigen Stellen des Landes. Gleichzeitig wurden die Führer der Gewerkschaft inhaftiert. Die Solidarnoćź-Delegation kam am 13. Dezember 1981 in Bremen an – und saß dort fest: Nur zwei Mitglieder reisten einige Wochen später zurück, der Rest entschloss sich, in Deutschland zu bleiben und fortan den Kampf gegen die Herrscher im eigenen Land aufzunehmen.
Was die Solidarnoćź-Vertreter ziemlich verwundert haben dürfte: Die Gewerkschaft stieß nicht überall auf Wohlwollen. Im Gegenteil, sie saß aufgrund der politischen Gemengelage sozusagen zwischen den Stühlen. So war die Bundesregierung unter Helmut Schmidt (SPD) beispielsweise bemüht, auch mit den neuen Machthabern in Warschau auszukommen, um ihre Entspannungspolitik nicht zu gefährden. Die damalige politische Linke wiederum war gegenüber der Sowjetunion freundlich gestimmt – da passte die Solidarnoćź gar nicht ins Bild.
Komplizierte Verhältnisse
Und als ob es nicht schon kompliziert genug wäre, sahen sich die polnischen Gäste auch noch diversen Fraktionen innerhalb der Gewerkschaften beziehungsweise des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gegenüber. Die deutschen Arbeitnehmervertreter konnten zum Beispiel mit der Verbindung ihrer polnischen Kolleginnen und Kollegen zum Katholizismus gar nichts anfangen. Das Verhältnis des westdeutschen Gewerkschafts-Dachverbandes blieb stets ambivalent, erfährt der Leser von Autor Ritter.
Trotz allem unterstützte Bremen die Solidarnoćź-Leute auf unterschiedliche Weise: Ihr Lebensunterhalt wurde in den ersten Wochen durch das Bremer Sozialamt gesichert, sie kamen in der Bremer Jugendherberge sowie später in einem Haus der Bremer Arbeiterwohlfahrt unter und konnten ab Mitte April 1982 schließlich ihr Büro eröffnen. Auch die Deutsch-Polnische Gesellschaft (DPG) Bremen spielte eine wichtige Rolle. Allerdings, so hat Rüdiger Ritter herausgefunden, sei das alles kaum in dem Maße möglich gewesen, wenn nicht ein Mann im Hintergrund die Fäden gezogen hätte: Bremens damaliger Bürgermeister Hans Koschnick.
Besondere Legitimation
Am Ende ging es darum, national und international Vertretungen und Büros der Solidarnoćź zu eröffnen. Vor diesem Hintergrund war es laut der Recherchen von Rüdiger Ritter wichtig, dass der DGB letztlich das Bremer Büro und seine Existenz anerkannte. Ja, ihm wurde sogar eine besondere Autorität zugesprochen: Schließlich war es durch die Danziger Solidarnoćź-Zentrale legitimiert, und es hatte sich gleich eine ganze Gruppe Gewerkschafter auf den Weg an die Weser gemacht – wenn auch anfangs unter ganz anderen Vorzeichen.
Kontakte zu Parteien und Organisation, Aufgaben des Bremer Büros und vieles mehr: Rüdiger Ritter ist mit „Solidarität mit Hindernissen“ ein wahrhaft beeindruckend tiefer Einblick in die Arbeit der Solidarnoćź-Leute in Bremen gelungen. Dies trifft im Übrigen nicht nur auf die Arbeit an sich zu. Das 332-Seiten-Werk lässt auch die Animositäten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Anfeindungen aus den Reihen der (exil-)polnischen Community nicht aus. Am Ende standen diverse Loyalitätskonflikte zwischen dem DGB und dem Bremer Büro – die Dachgewerkschaft reagierte mit Liebesentzug.
Schicksal besiegelt
Somit war das Schicksal der Solidarnoćź in Bremen faktisch besiegelt. Bevor die Aktivitäten jedoch ganz aufgegeben wurden, gab es noch Umzüge und Umstrukturierungen. Aber das alles war Makulatur. Denn: Nicht nur die Familien der verbliebenen Solidarnoćź-Aktivisten kamen nach Bremen. Sie absolvierten auch Sprachkurse und suchten sich reguläre Jobs. Das Kapitel Solidarnoćź hätte für sie abgeschlossen sein können.
Aber das war es dann doch nicht. Der Grund dafür waren Verunglimpfungen und gestreute Gerüchte, die Solidarnoćź-Leute seien Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes. Rüdiger Ritter und andere Historiker haben herausgefunden, dass es bei einigen einstigen Solidarnoćź-Aktivisten aus der Führungsspitze zutraf. Für die Bremer Leute galt das nicht.
Trotzdem hielten sich die Gerüchte hartnäckig bis in die Gegenwart – eben bis zur Veröffentlichung des Buches von Rüdiger Ritter. Sein Verdienst ist es, auch ganz im Sinne der polnischen Community in Deutschland, ja in ganz Europa, mit den Gerüchten aufräumen zu können. Dieses schafft der Historiker in fabelhaft unaufgeregter Weise. Sachlich reiht er die Fakten auf und sorgt für Wahrheit.
40 Jahre später
Was ist geblieben, jetzt, 40 Jahre später? Eine Frage, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einer Diskussion in der Oberen Rathaushalle Bremens Anfang August diskutierten. Genau genommen ist es der Ansatz einer Diskussion, denn dafür blieben wegen der Coronapandemie nur eineinhalb Stunden Zeit. Aber es waren wertvolle 90 Minuten, denn noch immer sind die Brüche spürbar. Doch am Ende sind diese verflogen.
Und der Autor? Rüdiger Ritter kann sich rühmen, ein Standardwerk vorgelegt zu haben – eines, das das Ergebnis eines umfangreichen, von 2016 bis 2019 dauernden Forschungsprojektes der Technischen Universität (TU) Chemnitz über die Solidarnoćź-Szene in Westeuropa ist. „Solidarität mit Schwierigkeiten“ sei das erste Buch, in dem die Ergebnisse zusammengefasst sind; ein zweites soll es laut Rüdiger Ritter Ende des Jahres geben.
„Elementare Sucharbeit“
Das alles ist sicherlich umso höher zu bewerten, weil es zu diesem Thema Bremer Stadt- und Landesgeschichte laut Autor bis auf einen kleinen Bestand der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen keine Archivsammlung gab. „Ein wichtiger Teil des Projekts war die elementare Sucharbeit“, sagt Rüdiger Ritter.
Fündig geworden ist er vor allem bei Privatpersonen beziehungsweise in ihren eigenen Sammlungen. „Ich bin von Mensch zu Mensch gefahren, habe mir Notizen und Fotos gemacht“, erklärt der Historiker. Einige Menschen hätten auch Vertrauen zu ihm gehabt und ihm das Material mitgegeben – oder gleich selbst nach Bremen gebracht. Jetzt verfügt die Forschungsstelle über einen großen Bestand dieser Periode. Darin eingeflossen sind Transkripte von Interviews aus dem Jahr 2005.
Zeitzeugen, Solidarnoćź, PiS
Interessant ist für Rüdiger Ritter der Kontakt zu den Zeitzeugen. Einige hätten das Bedürfnis gehabt, einige seien nicht wirklich auf ein oder gar mehrere Gespräch erpicht gewesen: „Da war alles dabei.“ Was für ihn, der diese Zeit als Jugendlicher erlebte, wichtig erscheint: „Die Koordinaten sind heute fundamental anders.“ Die Leute hätten sich erst einmal wieder erinnern müssen. Und: „Wer redete, sprudelte förmlich.“
Rüdiger Ritter kann anhand seines gesammelten Materials auch die Entwicklung der Solidarnoćź nachzeichnen. Die Bedeutung heute müsse man „historisch sehen“. Bei ihrer Gründung im Jahr 1980 war die Solidarnoćź „eine Sammlungsbewegung von ganz links bis ganz rechts“. Kleinster gemeinsamer Nenner dieser unterschiedlichen Kräfte sei der gemeinsame Feind gewesen: die Sowjetunion mit der Warschauer Regierung von Moskaus Gnaden, so Rüdiger Ritter. Dieses „Zweckbündnis“ sei mit der Aufhebung des Kriegsrechts auseinandergebrochen.
Bleibt der Blick auf das Polen heute und seine bestimmende Kraft: die Partei „Recht und Gerechtigkeit“, PiS. Da gebe es Parallelen zur frühen Solidarnoćź, meint Rüdiger Ritter. Denn: Auch die Gewerkschaft sei eine Sammlungsbewegung von mit dem System unzufriedenen Menschen gewesen – wie die PiS heute. Die Anhänger dieser Partei fremdelten mit der liberalen Demokratie und ihren Vertretern.
Sie hätten sich seit den 1990er-Jahren zwar um Dinge wie den Anschluss an den Westen gekümmert, doch Elementares wie ein System der sozialen Sicherung vergessen. Dieses, findet Rüdiger Ritter, hole die PiS jetzt nach, und vieles sei richtig. Allerdings nutze die Partei dieses Bedürfnis der Menschen zur Unterhöhlung der Demokratie und damit der Disposition demokratischer Grundrechte.