Heraus zum 1. Mai
Der 1. Mai: 1890 als Kampftag der Arbeiterklasse ausgerufen, ist er heute gesetzlicher Feiertag. In den vergangenen Jahrzehnten trafen sich dazu die Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu Kundgebungen und zu Feiern. Horst Romahn aus Osterholz-Scharmbeck und Reiner Kammeyer aus Bremen erinnern sich.
Von Ulf Buschmann
Verschlafen war im Prinzip nicht möglich – auch nicht für die Menschen, die den Abend zuvor ordentlich gebechert hatten. Wenn nämlich der Morgen des 1. Mai anbrach, zogen in kleinen und großen Städten die Spielmannszüge durch die Wohnquartiere. Schließlich hieß es: „Heraus zum 1. Mai!“ Entweder reihten sich die aktiven Gewerkschafter in die Demonstrationszüge ein oder kamen später zur Kundgebung. Fehlen, nein, das ging nicht!
Horst Romahn hat dies alles seit 1961 miterlebt. In diesem Jahr trat der heute 75-Jährige der Gewerkschaft bei. Horst Romahn wurde als gelernter Buchdrucker Mitglied der Industriegewerkschaft (IG) Druck und Papier. Diese ging später wie einige andere Organisationen auch in der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi auf.
Namen sind hin und wieder Schall und Rauch. Doch die Überzeugungen von Horst Romahn sind geblieben: Er ist ein Mensch, der sich bis heute für die Rechte anderer einsetzt. Dazu zählen Arbeitnehmer genauso wie Menschen mit Handicap und Geflüchtete. Ebenso ein wichtiges Anliegen ist es ihm faschistische Tendenzen zu bekämpfen. „Diese braune Suppe sollte nie wieder Fuß fassen“, sagt er.
Horst Romahn ist kein leiser Mensch, im Gegenteil, er vertritt seine Überzeugungen bisweilen lautstark. Auch bei den Maikundgebungen, an denen er als junger Mann teilnahm – zuerst in Osterholz-Scharmbeck, später auch in Bremen und anderen Regionen. Zwar wechselte Horst Romahn mehrmals den Arbeitsplatz und auch den Beruf, nicht jedoch seine gewerkschaftlich geprägten Überzeugungen.
Notstandsgesetze: „Nazi-Scheiße“
Seine erste Kundgebung auf dem Osterholz-Scharmbecker Marktplatz fand mit Horst Romahns Beteiligung im Jahr 1961 statt. „Themen? Ja, da gab’s einige“, erinnert er sich, „die Bundeswehr und ihre Verteidigungsstrategie, gleiche Bezahlung von Frauen und Männern und die Reform der Ausbildung.“ Er ergänzt: „In der Berufsschule fehlte die Modernität.“
Und dann kam die zweite Hälfte der 1960er-Jahre: Menschen gingen zu Tausenden auf die Straße, um gegen die sogenannten Notstandsgesetze zu protestieren. Es bildete sich die Außerparlamentarische Opposition (APO). Horst Romahn war mittendrin. Das Ende des Zweiten Weltkriegs lag gerade einmal 20 Jahre zurück, da seien Politiker schon wieder mit solch kruden Ideen um die Ecke gekommen. Horst Romahn nennt die Diskussion von damals auch heute noch „Nazi-Scheiße“. Er findet: „Als Gewerkschafter müssen wir uns gegen sowas auflehnen.“
Der Stadt-Land-Unterschied
Unterschiede zwischen Stadt und Land? Ja, erinnert sich Horst Romahn, die gab es. Das habe er als junger Mann, der in Osterholz-Scharmbeck lebte, aber in einem Bremer Betrieb lernte, sehr deutlich gemerkt. So seien an der Berufsschule in Bremen ganz andere Gespräche geführt worden. „Auf dem Land war es äußerst schwierig, gewerkschaftliche Themen zu setzen.“ Die Kollegen in Bremen hatten etwa fertige Konzepte für ihre Arbeit in der Schublade liegen. Im Landkreis Osterholz hingegen habe sich die Gewerkschaftsorganisation erst einmal zusammenfinden müssen.
In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre seien die Arbeitnehmer endlich eine Gemeinschaft geworden. Dies zeigten die Leute ganz deutlich bei den kleinen, aber für sie feinen Maikundgebungen auf dem Osterholz-Scharmbecker Marktplatz. 80 bis 90 Menschen gehörten nach Horst Romahns Erinnerung zum festen Kern derer, die am 1. Mai für die Arbeitnehmerrechte eintraten. Im Archiv des Osterholzer Kreisblatt ist von 150 bis 170 Teilnehmern in den 1970er- und 1980er-Jahren die Rede.
Themen gab es genug. Horst Romahn erinnert sich: „Da war zum Beispiel unser Kampf mit Stehnke. Der versuchte, die Löhne zu drücken.“ Damit war es aber nach der gewerkschaftlichen Intervention vorbei. Ebenso ging es selbst in den wirtschaftlich guten Jahren um die Sicherheit der Arbeitsplätze. Die Gewerkschafter hätten beispielsweise auf die Zukunft der Osterholzer Reiswerke und der Tabakfabrik geschaut. „Es gab so ein Unsicherheitsgefühl: Bleibt der Arbeitsplatz erhalten?“, sagt Horst Romahn.
Berufswechsel und harter Arbeitskampf
In den 1970er-Jahren wurde auch er selbst vom Umbruch seiner Branche getroffen. Als Buchdrucker habe er nicht mehr arbeiten können. Also schulte Horst Romahn um auf Tiefdrucker. Aber um in seinem Beruf arbeiten zu können, musste er aus der Region wegziehen. Die kommenden Jahre arbeitete Horst Romahn unter anderem in Schleswig-Holstein.
In dieser Zeit Anfang der 1970er-Jahre ging es auch den Gewerkschaften zumindest im Druckbereich nicht allzu gut. Schuld daran waren neue Techniken wie der Fotosatz, den die Arbeitgeber mit aller Macht einführen wollten – am liebsten über die Köpfe der Belegschaften hinweg. Die Folge: Es kam 1976 zum Streik der Drucker und Setzer. Über Wochen hinweg erschienen in Bremen, der Region und der Bundesrepublik keine Zeitungen.
Die Gewerkschaften seien paralysiert gewesen, weiß Horst Romahn. Aber eben nicht nur durch die Diskussion über die neuen Technologien. Was ihnen viel mehr zu schaffen gemacht habe, seien die rabiaten Methoden der Arbeitgeber gewesen. Sie sperrten ihre Belegschaften quasi zur Strafe einfach aus den Betrieben aus.
Reiner Kammeyer: Kampf um den Bremer Vulkan
Was es bedeutet, sich um tausende von Arbeitsplätzen sorgen zu müssen, erlebten gerade im Bremen der 1980er-Jahre viele Menschen. Schließung der AG „Weser“, Strukturwandel und sprunghaft ansteigende Arbeitslosigkeit schon seit den 1970er-Jahren waren so etwas wie die Begleiterscheinungen sämtlicher Maikundgebungen – daran hat sich im Prinzip bis heute nichts geändert.
Einer der das alles ab Mitte der 1980er-Jahre miterlebte, war Reiner Kammeyer. „Ich bin ein Kind der Fahrpreiserhöhung der Bremer Straßenbahn“, sagt der heute 69-Jährige von sich, „damals bin ich politisiert worden.“ Reiner Kammeyer ging zur Bremer Verwaltungshochschule, arbeitete später im Sportamt der Stadt und wurde 1985 stellvertretender Ortsamtsleiter des Stadtteils Vegesack.
Doch den braven Beamten mochte er nicht geben, im Gegenteil. Als Mitglied der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), die ebenfalls in Verdi aufging, hatte Reiner Kammeyer ein recht stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl. Dies ließ er unter anderem als ÖTV-Jugendvertreter im Gesamtpersonalrat Bremens durchblicken. Und: Reiner Kammeyer war Anhänger des Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW).
Antreten beim ÖTV-Vorstand
Dies und lange Haare waren damals eine toxische Mischung. Reiner Kammeyer erinnert sich, dass er unter anderem beim ÖTV-Bezirksvorstand antreten musste. Die Funktionäre versuchten, seine Gesinnung zu ergründen – vergeblich. Andere aus seinem Ausbildungsjahrgang wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Die rechtliche Grundlage dafür war unter anderem der sogenannte Radikalenerlass. „Diese Befragung hat meine Sicht auf die Gewerkschaft ein Stück verändert“, blickt Reiner Kammeyer zurück. Schmunzelnd fügt er hinzu: „Zu dieser Zeit lief doch fast jeder mit der Mao-Bibel in der Tasche herum.“
Doch bis es so weit kam, dass Reiner Kammeyer an seiner ersten Maikundgebung teilnahm, sollten noch einige Jahre vergehen. Bis dato hatte er andere Schwerpunkte gesetzt, zum Beispiel als erfolgreicher Handballtrainer. Erst mit dem Antritt seines Postens im Vegesacker Ortsamt gehörte es für ihn zum guten Ton, an der jährlichen Maikundgebung teilzunehmen. Davon gibt es gewöhnlich zwei: eine in der Bremer Innenstadt und eine in Bremen-Nord, auf dem Sedanplatz. Bis zu 3.000 Teilnehmer waren es in Spitzenzeiten.
Die Krise des Bremer Vulkan
Als „einschneidend“ bezeichnet Reiner Kammeyer die Krise des Bremer Vulkans, die schließlich 1996 in der endgültigen Schließung der Werft mündete. Aber auch an den Charakter der Nordbremer Kundgebungen mit anschließendem Familienprogramm im und vor dem Gustav-Heinemann-Bürgerhaus erinnert er sich gerne zurück. Und dann war das Jahr 2000: Rechtsradikale wollten in Vegesack demonstrieren. Der Deutsche Gewerkschaftsbund stellte daraufhin ein „Rock gegen Rechts“-Konzert auf die Beine.
Reiner Kammeyer überlegt, welche Themen es waren, die die Menschen bewegten. Seine Antwort: „Tarifverträge, Arbeitszeiten, Stellung der Frau und natürlich der Vulkan.“ Er schiebt hinterher: „In den 80ern war es ganz stark das Thema Rüstungskonversion.“
Der 1. Mai in Bremen
Genau genommen reicht die Geschichte des 1. Mai zurück bis ins Jahr 1886. Damals rief die nordamerikanische Arbeiterbewegung zur Durchsetzung des Achtstundentags und zum Generalstreik am 1. Mai auf. Es folgten Massenstreiks und Demonstrationen in den Industrieregionen. Vier Jahre später wurde zum ersten Mal dieser „Protest- und Gedenktag“ mit Massenstreiks und Massendemonstrationen in der ganzen Welt begangen. Der Versuch, den 1. Mai in der Weimarer Republik als gesetzlichen Feiertag schlug fehl. Dieses legten erst die Nationalsozialisten fest. Nach dem Ende der Diktatur bestätigte der Alliierte Kontrollrat den 1. Mai als gesetzlichen Feiertag. Die DDR und die Bundesrepublik feierten ihn gleichermaßen.
In Bremen gingen die Menschen am 1. Mai 1946 das erste Mal wieder auf die Straße. Aus diesem Anlass gab es im gerade ein halbes Jahr alten Weser-Kurier einen langen Artikel. „Was bedeutet dieser 1. Mai 1946?“, fragte der Autor: „Wird der 1. Mai auch noch lange, seiner Entstehung gemäß, von der Arbeiterschaft in engerem Sinne als ihr Tag empfunden, so kann er doch mehr und mehr als Festtag der ganzen Bevölkerung gestaltet werden. Die Forderungen, die einst nur von organisierten Arbeitern erhoben wurden, werden mit immer zwingenderer Notwendigkeit zu Lösungen des gesamten Volkes.“
Damit nahm der Autor die Zukunft vorweg, denn so kam es auch. Für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Gleichheit, gegen Kriege und Rüstung demonstrierten die Menschen in Bremen. In den folgenden Jahrzehnten gingen jedes Jahr 7.000 bis 10.000 Menschen alleine in der Hansestadt auf die Straße.