Den Marmeladeneimer fest im Griff

Wer waren sie? Wie haben sie gelebt? Wo kommen sie her? Es sind Fragen, die die Menschen bewegen, deren Vorfahren aus den ehemaligen Ostprovinzen des Deutschen Reiches stammen. Auch unser Kollege und Autor Ulf Buschmann gehört dazu – seine Ahnen kommen unter anderem aus Ostpreußen und Masuren. Im zweiten Teil geht es um die Kindheitserinnerungen seines Vaters Heinz – ein Interview, das er zwei Jahre vor seinem Tod 2016 mit ihm geführt hat. Die Recherchen werden durch das Programm „Neustart Kultur“ der Bundesregierung ermöglicht.

Von Ulf Buschmann

Wie alt warst Du, als ihr Königsberg verlassen musstet?
Ich wurde sieben Jahre alt, als wir wegfuhren. In Schwanewede wurde ich noch einmal mit sieben Jahren eingeschult. Das war zwar schon in Königsberg der Fall, aber Schule war da nicht. Wir saßen nur im Luftschutzkeller.

Kannst Du Dich daran erinnern, wie es in Königsberg aussah? Auf den alten Bildern sind Blocks – so etwas wie Mietskasernen – zu sehen.
Es waren Mietwohnungen. Wir wohnten ein bisschen am Stadtrand neben der Taubstummenanstalt und gegenüber war eine Schule. Sie wurde später als Lazarett benutzt. Ich kann mich noch daran erinnern, dass Klaus dort einen Eimer Marmelade geklaut hat. Wir waren damals schon eingeschlossen und hatten nichts mehr zu essen.
Als Klaus in der Mitte der Straße war, gab es Fliegeralarm. Klaus legte sich flach auf den Boden und dann schlugen auch schon die Geschosse der Tiefflieger in der Straße ein. Trotz allem hielt Klaus den Marmeladeneimer fest. Als der Angriff vorbei war, rannte er ins Haus. Wir alle waren heilfroh, weil wir was zu essen hatten und Klaus den Angriff unbeschadet überstanden hatte.

Weißt Du noch, wann das war?
Das war im Winter 1945, also vor der Flucht.

Flüchtlinge im Winter auf Schiffen im Hafen von Pillau

Im Jahr 1945 flüchteten viele Menschen über Pillau, das heutige Baltijsk. Foto: Bundesarchiv/H. Budahn/CC-BY-SA 3.0

Woran erinnerst Du Dich sonst noch?
Es ist nicht viel, doch an eine Geschichte erinnere ich mich ganz besonders: Im Sommer 1943 oder 1944 waren wir mit einem Marinesoldaten auf dem Schlossteich rudern – ich glaube, es war der Sohn einer Nachbarin. Meine Schwester Evchen war mit dabei. Er wollte den Mädchen, die außer meiner Schwester dabei waren, imponieren und schaukelte mit dem Boot. Da hatte ich unheimliche Angst. Einige Wochen später hieß es, der Junge sei tot. Angeblich sei er desertiert und erschossen worden.
Das schlimmste Erlebnis, das ich hatte, geschah im Winter 1944/1945: Ich war in der Nähe eines kleinen Wäldchens hinter unserem Haus butschern. Dabei beobachtete ich, wie Juden – Erwachsene, Kinder und alte Leute – von SA-Leuten vor sich her getrieben wurden. Als eines der Kinder nicht mehr konnte, wurde es von den SA-Leuten einfach erschossen.

Wie ging Eure Flucht vonstatten?
Wir sind nur so lange noch in Königsberg geblieben, weil Anneliese schwer krank war. Weil Gauleiter Koch jeweils das fünfte Kind einer Mutter zu seinem persönlichen Paten erklärt hatte. Es hieß immer, wir würden mit einem Lazarettschiff evakuiert. Das Schiff kam natürlich nicht. Im Januar 1945 hatte meine Mutter die Schnauze voll. Sie entschied, dass wir mit dem nächsten Schiff fahren würden – das war die „Wilhelm Gustloff“. Wir sind also zum Hafen, das sehe ich noch wie heute: Da waren Massen von Menschen.
Als meine Mutter das sah, meinte sie, es sei egal, ob wir auf diesem Schiff oder zu Hause verrecken. Sie schnappte also ihre fünf Kinder und wir sind wieder nach Hause gefahren. Auf dem Rückweg prasselten auch wieder bei einem Fliegeralarm die Bomben herunter und wir brachten uns in einem Hauseingang in Sicherheit. Von Januar/Februar bis zu unserer Flucht im März 1945 war so häufig Fliegerangriff, dass wir die meiste Zeit im Keller verbrachten.
An Schlaf war ja gar nicht zu denken. Bei einem Angriff bin ich deshalb mit einer Tante oben geblieben. Und prompt flog durch das Fenster unseres Zimmers eine Bombe und drehte sich wie ein Brummkreisel. Wenn sie explodiert wäre, säße ich jetzt nicht hier.

Es ist egal, ob wir auf dem Schiff
oder zu Hause verrecken

Wie seid Ihr aus Königsberg geflohen?
Wir erwischten mit der „Marie-Luise“ das letzte Schiff, das Königsberg verließ. Nach uns ist keiner mehr herausgekommen. Ich kann mich daran erinnern, dass wir uns im Laderaum unter einem Wehrmachts-Lkw verkrochen. Wir waren immer abgekapselt von den restlichen Flüchtlingen. Deshalb hatten wir keine Probleme mit Läusen oder Wanzen und bekamen später in Schwanewede als eine der wenigen Familien ein privates Quartier.

Ein kleines Kind auf dem Arm eines größeren Kindes.

Heinz Buschmann und seine große Schwester Doris in Königsberg. Repro: Ulf Buschmann

Klaus erzählte einmal, dass Du während der Flucht gesundheitlich ziemlich angeschlagen gewesen seist…
Das stimmt. Ich konnte nicht mehr laufen, gar nichts mehr. Daraufhin päppelte mich der Bauer, bei dem wir untergekommen waren, mit Milch, Saft und allem, was er hatte, wieder hoch.

Kannst Du Dich an den Tag erinnern, als Ihr Königsberg verlassen habt?
Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Ich weiß nur noch, dass wir am 2. Ostertag 1945 in Schwanewede ankamen und es ziemlich kalt gewesen war, als wir Königsberg verließen. Wir mussten zuerst mit dem Schiff nach Pillau-Neutief, danach ging es zwei Wochen kreuz und quer mit dem Zug durch das Reich. Nirgendwo konnten wir hin, keiner wollte uns haben. In Blumenthal stiegen wir schließlich aus und wurden mit Pferdefuhrwerken nach Schwanewede gebracht.
Während der Fahrt mit dem Zug hieß es irgendwann, die Lokomotive würde Dampf ablassen. Also rannte meine Mutter nach vorne, um etwas heißes Wasser abzubekommen. Davon wollte sie uns Haferflocken machen. Als der Zug anfuhr, war meine Mutter noch nicht wieder da. Ich heulte und schrie! Dann stellte sich heraus, dass sie vorne eingestiegen war und sich durch die Massen von Menschen zu uns durchboxte.

Kartoffelschalen

Auf der Flucht gab es in Pillau-Neutief Kartoffelschalen. Foto: Pixabay

Kartoffelschalen und Steckrüben

Wovon habt Ihr Euch sonst ernährt?
Während der Zugfahrt von Steckrüben. Wenn wir auf freier Strecke stoppen mussten, klauten wir sie von den Feldern. Als wir in Pillau-Neutief auf das Besteigen des Schiffes warteten, gab es Kartoffelschalen. Dort trafen wir unseren Onkel Heinrich, einen Bruder meiner Mutter. Er wagte es, uns ein kleines Stück Speck abzugeben. Dafür sollte er standrechtlich erschossen werden. Auch meine Mutter wurde von einem Offizier bedroht, weil sie den Speck von Onkel Heinrich angenommen hatte.

Warum ist Evchen in Königsberg geblieben? Sie war ja mit 16 Jahren noch recht jung.
Evchen war bereits verlobt. Deshalb wollte sie bei ihrem Verlobten bleiben.

Wie seid Ihr in Schwanewede aufgenommen worden?
Wir konnten uns nicht beklagen. Meine Mutter ist immer beim Bauern arbeiten gegangen. Geld gab es aber nicht, sie wurde mit Naturalien bezahlt. Es gab Milch oder Haferflocken. Meine Mutter hat auch ihren Ehering versetzt. Dafür bekam sie einen Sack Korn, aus dem Haferflocken gepresst wurden. Alles was zu versetzen war, versetzte sie, damit wir etwas zu essen hatten. Mit 12, 13 Jahren half ich später auch beim Bauern. Wir mussten Wagen und Geräte abschmieren und vieles mehr.

Wann kam Opa Otto denn zurück?
Das war 1947. Soviel mir noch bekannt ist, hatten ihn zuerst die Engländer geschnappt. Dort riss er aus und geriet in die Fänge der Russen, bis ihn danach die Amerikaner festsetzten. Aber wo das war, ist mir nicht bekannt. Mit uns Kindern hat er da nicht drüber gesprochen.

Flüchtlinge mit Pferdetrecks in Ostpreußen.

Milllionen von Menschen strömten 1945 von Ostpreußen aus gen Westen – wie am Kurischen Haff. Foto: Bundesarchiv/Transit Film GmbH/BY-SA 3.0

Kannst Du Dich an den Tag erinnern, an dem Opa Otto wiederkam? Wie ging es weiter in Schwanewede?
An den Tag, an dem Opa Otto wieder zu Hause war, kann ich mich nicht erinnern. Es muss aber zu der Zeit gewesen sein, als unsere Mutter bereits die Baracke organisiert hatte. Denn irgendwann mussten wir aus unserem Privatquartier aus- und in eine Baracke umziehen. Das war ungefähr dort, wo es heute nach Hinnebeck abgeht. Es waren zwei Zimmer.
Als Opa Otto aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, haben wir ein Zimmer zu einem Friseurladen umgebaut. Mein Vater war ja Friseurmeister. Damit hat er ein Schweinegeld verdient. Wir hätten wer weiß wie reich sein können, aber Opa Otto hat alles versoffen. Später konnte er noch einem alten Eisenbahnwaggon umbauen und wir bauten an unserer Baracke an, damit meine Mutter eine Eisdiele eröffnen konnte. Aber die ist wohl eingegangen.
Als Kind war ich aber meistens draußen zum Fußballspielen oder bei Bauer Pundt. Wir mussten die Achsen der Lkw abschmieren, das haben die Pundt-Jungs auch getan.

Beim Kinderfunk in Königsberg

Ist man Euch feindselig gegenübergetreten?
Nein. Klaus hatte öfter mal Prügeleien, ich später auch. Uns haben die Einheimischen ja Kartoffelkäfer genannt. Aber wir hatten keine großen Probleme. Dafür waren es einfach zu viele Flüchtlingskinder.

Nochmal zurück zu Eurem Leben in Königsberg: Wann ging der Beschuss durch die Rote Armee los?
Das war Ende 1944. Die Russen waren so nah, dass sie mit Lautsprechern zu uns herübergesprochen haben: „Kommt herüber zu uns, hier gibt es Erbsensuppe!“ Ich habe immer in meinem Bett im Luftschutzkeller gelegen und hab geschaukelt. Dabei habe ich immer „Wir siegen dennoch, wir siegen dennoch!“ gerufen. Ich weiß noch, dass wir ab und zu mal Radio hörten: Doris war damals beim Kinderfunk in Königsberg. Meine Schwester verehrte die Nationalsozialisten und heulte wie ein Schlosshund, als wir das Hitlerbild kaputt schlugen und in die Mülltonne warfen.

Meine Mutter hatte nie etwas
mit Hitler und Krieg am Hut.

War Oma Toni denn Hitler-Anhängerin?
Ach was! Unsere Mutter wollten sie einbuchten, weil sie Klaus nicht zur Hitlerjugend geprügelt hatte. Sie kaufte Klaus eine neue HJ-Uniform. Doch anstatt zum Dienst zu gehen, stapelte er im Keller Briketts. Daraufhin stand eine Horde Hitlerjungen vor unserer Wohnung und bedrohte sie. Nein, nein, meine Mutter hatte nie etwas mit Hitler und Krieg am Hut.

Vier Kinder der Familie Buschmann

Angekommen in der neuen Heimat (v.l.): Doris, Anneliese, Ilse und Heinz Buschmann. Nicht mit auf dem Bild: Bruder Klaus. Repro: Ulf Buschmann

Hast Du denn darüber mal mit Opa Otto gesprochen?
Nein. Als Kind war ich immer draußen und wenn ich zu Hause war, musste ich mit Klaus in einem Bett schlafen. Später haben sich meine Eltern scheiden lassen. Das war aber noch in Schwanewede, und wir zogen 1953 nach Aumund. Als hier alles in die Brüche ging, verbrachte Opa Otto zwei Jahre an der Mosel, um bei der Weinlese zu helfen. Er kam ganz kaputt und reumütig wieder und lebte noch einige Jahre mit uns, bevor er ins Pflegeheim kam. Gestorben ist Opa Otto an Magenkrebs.

Hast Du mit Deinen älteren Geschwistern mal über die Zeit gesprochen?
Nur dann, wenn wir mal zusammengekommen sind. Klaus hat ja geheiratet, als wir noch in Schwanewede lebten.

Mehr zum Thema

Der erste Beitrag unserer Ahnenforschungsreihe ist am 10. Dezember erschienen. In der kommenden Woche, am 24. Dezember, beschreibt unser Autor seine erste unbewusste Reise zu seinen Vorfahren nach Masuren.

Dieses Projekt wird unterstützt durch das Programm NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und durch die VG Wort.