Wehrt euch mit allem, was ihr habt

Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter. Im Selbstverteidigungskurs von Wing Tsun-Trainerin Gudrun Glaser lernen Frauen, wie sie sich vor Übergriffen schützen und im Ernstfall wirksam verteidigen können. Wir haben es ausprobiert.

Von Daniela Krause

Nach dem Konzert strömen die Besucher zum Ausgang der Halle. An der Tür lehnt ein Typ, der in die entgegengesetzte Richtung will. Die Leute beachten ihn nicht, gehen einfach weiter. Am Ende sind alle draußen. Alle? Nein! Eine Frau bleibt zurück. Verängstigt und erfolgreich isoliert durch den Täter, der jetzt zudringlich wird. Mit Rollenspielen wie diesen öffnet Wing Tsun-Trainerin Gudrun Glaser Frauen in ihren Selbstverteidigungskursen die Augen: „Seid wachsam, achtet aufeinander, und habt vor allem einen Plan im Kopf“, sagt sie. „Das üben wir gleich nochmal.“

„Wir“ – das sind an diesem Wochenende rund 20 Frauen im Alter zwischen 15 und 62 Jahren, die sich zum zweitägigen Workshop der Volkshochschule Bremen (VHS) in der Turnhalle an der Grenzstraße angemeldet haben. Alle haben ganz unterschiedliche Erfahrungen mit Belästigung, Rassismus, Sexismus bis hin zu verbaler oder körperlicher Gewalt machen müssen. Wir sind neugierig, zum Teil angespannt, möchten lernen, selbstbewusst Grenzen zu setzen, um Übergriffe zu vermeiden. Aber wir wollen auch ausprobieren, wie wir uns im Notfall mit Wing Tsun-Techniken zur Wehr setzen können.

Den Schwung für die Flucht nutzen

Beim zweiten Durchgang sind wir vorgewarnt und aufmerksamer. Tatsächlich gelingt es diesmal, dem Täter das Opfer wegzunehmen, indem eine von uns die Frau in ein Gespräch verwickelt und zur Seite nimmt. Das geht so schnell, dass der Täter überrumpelt zurückbleibt. In der dritten Runde wird er aufdringlicher, rempelt einzelne Frauen an und versperrt ihnen mit ausgebreiteten Armen den Weg. Auch hier hat Glaser einen Trick parat, den jede von uns gleich an ihr austesten darf.

Als nächstes kommt sie auf mich zu und baut sich vor mir auf. Sie blockiert meinen Fluchtweg. Ich muss also an ihr vorbei. Ich schnappe mir ihren linken Arm mit beiden Händen, drehe sie zur Seite und gebe ihr einen Rückenstoß – so, wie sie es uns gezeigt hat. Dann renne ich weg. „Das mit dem Drehen klappt bei kräftigen Männern aber nicht immer“, dämpft die Trainerin meine Euphorie. „In dem Fall musst du den Schwung an ihm vorbei für die Flucht nutzen.“ Schnell und schlau sein ist die Devise.

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Dominanz zeigen, das sei das A & O. Laut werden, selbst gefährlich werden. „Auch kleine Hunde können sich Respekt verschaffen“ ermutigt sie die Frauen. Ein doppelter Handflächenstoß gegen die Brust, der sogenannte Schockschlag, als letzte Warnung, könne helfen, den Täter aufzurütteln, damit dieser ablässt. „Stopp“, „Finger weg“, „Hau ab“. Ihr müsst hier die Befehle geben, erklärt Gudrun Glaser. „Und wenn er mich dann doch festhält und angreift?“, will eine der Kursteilnehmerinnen wissen. „Dann wehrt ihr euch heftig mit allem, was ihr habt, oder gerade findet“, so die Trainerin. „Das kann zum Beispiel ein Stein sein, ein Ast, ein fest zwischen die Finger geklemmter Schlüssel oder ein Kugelschreiber. Alles, was die Schlagkraft eurer Faust verstärkt.“

Einen Schutzgegenstand suchen

Es sei grundsätzlich darauf zu achten, immer genügend Abstand zwischen sich und dem Täter zu halten, damit dieser erst gar nicht zupacken kann. „Euer bester Trick ist die Distanz. Sucht euch einen Gegenstand, etwa ein Auto, eine Bank oder einen Baum.“ Bleibt hinter dem Gegenstand so lange ihr könnt und haltet euch kampfbereit. Ihr gewinnt dadurch Zeit. Zeit ist ein Störfaktor für den Täter. Die Wahrscheinlichkeit, dass er ablässt steigt, je länger es für ihn dauert, an sein Opfer ran zu kommen.“

Indem wir die Situationen nachstellen, merken wir, wie effektiv ein Schutzgegenstand sein kann. Glaser berichtet uns von einer Frau, die sich vor dem Täter unter ein Auto retten konnte. „Sie hat sich dort festgeklammert, sodass der Mann sie nicht zu fassen bekommen und irgendwann aufgegeben hat.“

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Selbst kampflos aufgeben sollten Frauen hingegen niemals, warnt sie: „Lasst bitte keine Vergewaltigung zu, nur weil der Täter euch droht bei Gegenwehr noch brutaler vorzugehen. Er lügt. Ist doch klar. Er möchte mit der Drohung seine Macht steigern. Außerdem seid ihr nach einer Vergewaltigung nicht mehr bei vollen Kräften und noch lange nicht in Sicherheit. Wer weiß, wozu der Täter noch fähig ist.“ Auch fesseln lassen sollte man sich nicht. „Gefesselt seid ihr kampfunfähig. Lasst euch lieber einsperren. Dann habt ihr die Chance, euch mit einem Gegenstand zu bewaffnen und ihn zu überraschen, wenn er wieder die Tür öffnet. Ihr könnt versuchen, aus dem Fenster zu fliehen oder von dort aus andere Menschen lautstark auf eure Lage aufmerksam zu machen.“

„Euer bester Trick ist die Distanz.“

In den darauf folgenden Kursstunden geht es in der Turnhalle so richtig zur Sache: Unter anderem lernen wir Tritttechniken kennen, mit denen Frau, wenn es zum Äußersten kommt, schon mal ein Knie brechen oder die Hoden schmerzhaft treffen kann. Wir befreien unsere Hände in Partnerübungen aus der Umklammerung, trainieren Kettenfauststöße an einer dicken Matte. Danach erfahren wir was zu tun ist, wenn uns jemand von hinten überrascht und umklammert, sodass wir den Oberkörper nicht mehr bewegen können.

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Ich fühle mich wie in einem Schraubstock. „Deine Hüfte kannst du aber noch bewegen“, gibt Gudrun Glaser den entscheidenden Hinweis, als ich versuche mich aus der viel zu festen Umarmung herauszuwinden. Ein Schwung mit der Hüfte nach rechts oder links macht den Weg frei. Nun könnte ich meinem Peiniger entweder meinen Ellenbogen in den Bauch oder die Faust in die Eier rammen. Beides geht natürlich auch. „Und zwar so lange, bis er von dir ablässt und sich vor Schmerzen krümmt. Dann ist dein Moment für die Flucht gekommen.“

Mit Schmackes zutreten

Auch wenn die Übungen uns im Ernstfall schützen sollen, kommt der Spaß während der Trainingseinheiten nicht zu kurz. Zwischendurch lachen wir und feuern uns gegenseitig an. Berührungsängste sind in diesem Workshop fehl am Platz. Die den meisten von uns anerzogenen Schlaghemmungen werden wirksam abgebaut. Jede traut sich hier, mit Schmackes zuzutreten oder zu boxen – solange die andere mit einer Schutzweste oder einem Schlagpolster ausgestattet ist, kann gar nichts passieren. Wann hat man schon mal solch eine Gelegenheit?

Regelmäßiges Training

Zwar fangen irgendwann meine Handgelenke an zu schmerzen, und die Arme zieren ein paar blaue Flecke. Das nehme ich aber gerne in Kauf, ebenso wie den Muskelkater in den Schulterblättern am Morgen danach. Die Tipps und Tricks und die Erfahrung, die wir am Ende mit nach Hause nehmen dürfen, sind es allemal wert. Auch wenn die Trainerin in so einem Crashkurs mit uns natürlich nur an der Oberfläche des Möglichen kratzen kann. Für fließende Bewegungen, schnelle Reaktionen und ein sicheres Handling der verschiedenen Techniken braucht es regelmäßiges Training. Das ist den Frauen bewusst. „Ich praktiziere die Kampfkunst Wing Tsun seit 31 Jahren und lerne selbst immer noch etwas dazu“, sagt Gudrun Glaser.

Die Kurse

Mehr Infos zu den Selbstverteidigungskursen gibt es hier. Weitere Tipps und Tricks verrät die Trainerin im Interview.

Stimmen zum Kurs

Nele (15)
„Unsere Trainerin hat uns nicht mit Samthandschuhen angefasst, nur weil wir Frauen sind. Sie hat uns gezeigt, wie das richtige Leben ist und wie brutal es werden kann. Außerdem hat die Gruppe sehr aufeinander aufgepasst, und jeder wurde unterstützt. Unser Selbstbewusstsein wurde gestärkt: Wir können LAUT sein! Durch den Kurs fühle ich mich sicherer als vorher und gerüstet für meine geplanten Reisen und Unternehmungen.“

Laura (24)
„Ich fand es toll, dass Gudrun uns ermutigt hat, nie aufzugeben, und dass es immer einen Ausweg aus einer Situation gibt. Ich habe vieles lernen können, auf das ich ohne diesen Kurs nicht gekommen wäre. Das sind so einfache Tricks und Tipps, die in einer brenzligen Situation einiges ausmachen können. Ich fühle mich auf jeden Fall etwas sicherer, wenn ich nun alleine unterwegs bin und habe den Kurs auch schon meinen beiden Schwestern ans Herz gelegt.“

Leman (62)
„Gudrun hat uns wertvolle Tipps an die Hand gegeben, wie dominantes Verhalten zeigen und einen Fluchtweg suchen. Es ist auch gut, die körperlichen Schwachstellen des Täters zu kennen, wenn es ernst wird. Am ersten Tag waren die Frauen noch etwas zaghaft. Am zweiten Tag waren sie wie entfesselt: Da kam so viel Wut hoch, und sie haben sich endlich getraut, mit voller Kraft zugeschlagen. Schade nur, dass es so wenige Kurse dieser Art gibt.“

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