70 Jahre huckepack

Seenotkreuzer mit Tochterboot gehören zum Bild an der deutschen Nord- und Ostseeküste. In diesem Jahr wird dieses Konzept 70 Jahre alt. Der Versuchskreuzer „Bremen“ liegt als schwimmendes Museum im Vegesacker Hafen.

Von Ulf Buschmann

Irgendwo an der Nordseeküste: Ein Boot ist leckgeschlagen, es droht zu sinken. Die Besatzung funkt SOS. Einer der Seenotkreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) läuft aus. Doch die Helfer kommen mit ihrem Schiff nicht nah genug an das Boot heran, weil es zu flach ist. Deshalb lassen sie das Tochterboot zu Wasser. Die Menschen werden gerettet. Das Boot kann ebenfalls durch das Tochterboot und den Einsatz von Lenzpumpen in den nächsten Hafen geschleppt werden.

Seenotkreuzer mit ihren huckepack mitgeführten Tochterbooten haben in den vergangenen Jahrzehnten Tausende Menschen gerettet – selbst dort, wo die größeren Einheiten mit ihrem Tiefgang nicht mehr hinkommen. In diesem Jahr hat dieses Konzept Geburtstag – es ist 70 geworden. Den Beginn dieser damals neuen Ära markiert der Seenotkreuzer „Bremen“. Das Schiff, das als schwimmendes Museum anerkannt ist, liegt heute im Hafen Vegesack.

„Als Vater dieses auch international wegweisenden Schiffstyps im Seenotrettungsdienst gilt Kapitän John Schumacher. Er trieb als nautisch-technischer Inspektor der DGzRS (1949 bis 1976) dessen Entwicklung maßgeblich voran“, schreibt die Gesellschaft in einer Mitteilung. Nicht nur das Huckepack-Prinzip war bis dato einzigartig. Auch die Konstruktion der „Bremen“ als Selbstaufrichter. Heißt: Kentert das Schiff, dreht es sich um die Längsachse und richtet sich wieder auf.

Rettung von Schiffbrüchigen.

Mit Ruderbooten wurden Menschen früher aus Seenot gerettet. Foto: Unbekannt

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Großes Modernisierungsprogramm

Ende der 1940er- und Anfang der 1950er-Jahre musste die nicht staatliche Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger ihre Infrastruktur modernisieren. Damals, in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, war es eine Mammutaufgabe. Denn noch hatte das sogenannte Wirtschaftswunder nicht eingesetzt. Die Arbeitslosigkeit war hoch, die Wirtschaft berappelte sich erst wieder. Entsprechend schmal fielen die Spenden aus.

Die DGzRS mit Sitz in Bremen setzte also Prioritäten. Zunächst wurde das Nachrichtenwesen an Nord- und Ostsee verbessert. Sinn und Zweck: Die Rettungsstationen sollten schneller alarmiert werden können. Der eingeschlagene Weg erwies sich als richtig, die Rettungsmänner waren flotter im Einsatz als bislang. Doch längst waren die Probleme der Seenotretter nicht gelöst: Die damals im Einsatz befindlichen, meistens weit vor dem Zweiten Weltkrieg gebauten Rettungsboote waren zu langsam. Die eigentlich notwendige absolute Seetüchtigkeit im Brandungsgebiet von Nord- und Ostsee mit hoher Geschwindigkeit zu kombinieren – bis dato ein Ding der Unmöglichkeit.

Schumacher entwickelte deshalb einen neuartigen Schiffstyp. Dieser sollte laut DGzRS doppelt so schnell sein wie die bisherigen Rettungsboote. Auch bei schwerer See. Hinzu kamen zwei weitere Anforderungen: Der neue Bootstyp musste hochseetüchtig sein und ohne Probleme im flachen Wasser operieren können. Aus heutiger Sicht machte sich der technische Inspektor daran, die sprichwörtliche Eier legende Wollmilchsau zu erfinden.

Kapitän John Schumacher,

Kapitän John Schumacher, „Vater“ des Seenotrettungskreuzers. Foto: Die Seenotretter/DGzRS

Rückgriff auf vorhandenes Boot

Doch den Schumacherschen Vorstellungen stand das schmale Budget der DGzRS im Weg. Also griffen er beziehungsweise die anderen Verantwortlichen auf einen vorhandenen Bootstyp zurück: das ehemalige, im Jahr 1931 bei der Friedrich-Lürssen-Werft gebaute Küstenrettungsboot „Konsul Kleyenstüber“. Es harrte sozusagen einer neuen Verwendung, da es im Jahr 1949 außer Dienst gestellt worden war. Die Stationen waren von 1931 bis 1940 Pillau – heute Baltijsk sowie von 1940 bis 1944 Borkum: Von 1944 bis 1946 war das Küstenrettungsboot nicht im Dienst. Erst von 1946 bis 1949 gab es wieder etwas zu tun – die letzte Station war Amrum.

Für DGzRS-Inspektor Schumacher schien die „Konsul Kleyenstüber“ eine gute Basis zu sein. Hierzu gehörten neben dem Doppelschraubensystem, das von zwei Dieselmotoren angetrieben wurde, eine zweite Außenhaut und die große Anzahl wasserdichter Abteilungen. Jede konnte für sich durch eine Lenzvorrichtung entleert werden. Auch das, was die modernen Seenotkreuzer an Bord haben, war bei der 1931er-Einheit schon verbaut worden: ein Hilfsdiesel, der Strom in Akkumulatoren zur Versorgung von Licht- und Funkanlage, Scheinwerfer sowie Nebelhorn einspeiste.

Auf dieser Basis machte sich Schumacher ans Werk. Heraus kam der Versuchskreuzer „Bremen“, dessen Erprobung im Januar 1953 begann. Das Ziel, das Schiff als Selbstaufrichter zu konstruieren, war gelungen. „Bis heute ist dies eine grundlegende Eigenschaft aller DGzRS-Einheiten“, betont die Gesellschaft. Neu war auch das in der Heckwanne mitgeführte Tochterboot mit eigenem Antrieb. Dies ermöglichte die gewünschte Rettung in Flachwassergebieten. Umgebaut wurde die neue Einheit übrigens ebenfalls bei der Friedrich-Lürssen-Werft.

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Seenotrettungskreuzer THEODOR HEUSS

Der Seenotkreuzer „Theodor Heuss“ im Olympiahafen Kiel-Schilksee. Foto: Stadtarchiv Kiel/Friedrich Magnussen/CC BY-SA 3.0

Außerdienststellung 1965

Die „Bremen“ leistete den Seenotrettern im Rückblick wertvolle Dienste. Gleichwohl war die Zeit des Schiffs abgelaufen – 1965 wurde es zum zweiten Mal in seinem Leben außer Dienst gestellt. Bis dahin war es von 1953 bis März 1960 in Bremerhaven, von April 1960 bis September 1961 in Hörnum auf der Insel Sylt sowie von Oktober des gleichen Jahres bis zum Ende auf Amrum stationiert.

Schon 1957 war auf der Basis der „Bremen“ ein komplett neuer Seenotkreuzer-Typ konstruiert worden: die 23,5 Meter lange „Theodor-Heuss“-Klasse. Der Kreuzer mit dem Namen des ersten Bundespräsidenten wurde im gleichen Jahr in Dienst gestellt. Das Tochterboot trug den Namen „Tedje“, eine Verniedlichung des Namens Theodor.

Die „Theodor Heuss“ war zunächst auf Borkum stationiert und wurde im Juni 1963 nach Laboe verlegt. Dort war das Schiff bis zu seiner Außerdienststellung im Mai 1985 im Einsatz. Weitere Kreuzer dieser Klasse waren die „Ruhr-Stahl“ mit Tochterboot „Tünnes“, die „H.H. Meier“ mit ihrem Tochterboot „Roland“ und die „Hamburg“ mit dem Tochterboot „Michel“. Auch diese Einheiten wurden im Laufe des Jahres 1985 außer Dienst gestellt und verkauft.

Seenotkreuzer

Heute liegt der erste Seenotkreuzer „Bremen“ im Hafen Vegesack. Foto: Ulf Buschmann

Die „Bremen“ zurück in Vegesack

Bleibt die Frage: Was geschah nach der Außerdienststellung mit der „Bremen“? Das Schiff war von 1965 bis 1972 unter dem Namen „Oeltjen“ als Schlepper und Bereisungsboot auf der Weser unterwegs. Danach ging es an einen Hamburger Bauunternehmer – allerdings ohne Tochterboot. Dieses ist seitdem verschollen. Die einstige „Bremen“ verlor ihre Heckwanne, wurde zu einer Privatjacht umgebaut und auf den Namen „Wal“ umgetauft.

Eigentlich sollte das Schiff verschrottet werden, doch dann trat der 2022 verstorbene Mäzen und Bremer Ehrenbürger Klaus Hübotter auf den Plan. Er kaufte es. Am 5. Mai 2013 wurde es im Europahafen auf den Namen „Bremen“ zurückgetauft. Nach einem Werftaufenthalt kam das Schiff ein Jahr später gesandstrahlt mit seiner Originalfarbgebung zurück zu seinem Entstehungsort: in den Hafen Vegesack. Dort kümmert sich eine ehrenamtliche Crew um den Erhalt des Schiffs, das inzwischen auch wieder seine Heckwanne für das Tochterboot hat.

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