Regeln werden auch als Fürsorge erlebt

Wie sieht ein verantwortungsvoller Umgang mit Medien von Kindern und Jugendlichen aus? Ideen und Beispiele hat Dr. Patrick Ehnis, Suchtpräventionsberater beim Verein Release in Stuhr-Brinkum.

Von Daniela Krause

Wieviel Zeit an PC, Konsole oder Smartphone ist in Ordnung? Welche Inhalte darf mein Kind sehen? Welche besser nicht? Fragen, über denen Eltern regelmäßig grübeln. Einer, der sich mit dem Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen intensiv beschäftigt, ist Dr. Patrick Ehnis vom Verein Release, der kürzlich für die Veranstaltungsreihe Werkstatt Erziehung der Ambulanten Kinder- und Jugendhilfen Stuhr einen Vortrag gehalten hat. Ehnis arbeitet seit 2019 als Suchtpräventionsberater bei Release, davor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an diversen Hochschulen und Universitäten.

Nach seiner Einschätzung ist der Bedarf an Medienprävention in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen: Die Nutzung von Medien nimmt zu, und es gibt sehr unterschiedliche Haltungen und Positionen zum Thema. Einerseits strebe die Gesellschaft eine Art Durchdigitalisierung an, andererseits werde vor den Gefahren einer ungehinderten Nutzung von Medien durch Kinder- und Jugendliche eindringlich gewarnt. Hier eine klare Haltung zu finden, sei nicht leicht, so der Experte. Medienkompetenz hat Ehnis zufolge nichts mit dem ungehinderten Zugang zu einem Smartphone zu tun. Das Thema Medien sollte stets durch Familienregeln und Interesse begleitet sein.

Dr. Patrick Ehnis, Suchtptäventionsberater bei release e.V.

Dr. Patrick Ehnis ist Suchtpräventionsberater beim Verein Release. Foto: privat

Herr Dr. Ehnis, Was überrascht Sie am meisten, wenn Kinder über ihre eigene Mediennutzung sprechen?

Dr. Patrick Ehnis: Die meisten Kinder haben in der fünften Klasse das eigene Smartphone noch relativ neu, viele verfügen darüber hinaus auch über Zugang zu iPad und Spielekonsole. In unseren Workshops mit fünften und sechsten Klassen geht es unter anderem darum, dass die Kinder selbst die Erfahrungen ihrer Mediennutzung reflektieren: Was für Vorteile bietet die Mediennutzung? Welche Gefahren sehen sie auch?

Ich bin überrascht wie gut sie aufzählen können, was ihnen gefällt, aber auch was eventuell schwierig ist am Medienkonsum und wie oft bereits von eigenen, negativen Erfahrungen berichtet wird: nicht aufhören können; Chat-Gruppen, die aus dem Ruder laufen; Mobbingerfahrungen; versehentlich getätigte Einkäufe; Chats mit fremden Erwachsenen, Gewalt- und Pornovideos.

Die schwierigen Seiten der Mediennutzung sind durchaus bekannt. So wie Eltern Unsicherheiten haben, hinsichtlich der richtigen Medienregeln, haben Kinder und Jugendliche auch häufig Unsicherheiten hinsichtlich ihrer Mediennutzung. Und das ist vielleicht das überraschendste für mich gewesen: Sie können im Grunde auch verstehen, dass Eltern in diesem Bereich Regeln einführen.

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Welche konkreten Wünsche äußern Kinder und Jugendliche?

Wir machen dazu eine Positionierungsübung: Die Kinder stellen sich nach der Frage, wie sich ihre Eltern verhalten sollen, wenn sie sich nicht an Medienregeln halten, zu vorformulierten Aussagen. Es gibt zum Beispiel die Blättchen: „Mach doch, was du willst“ oder „Komm, das nächste Mal zocken wir gemeinsam durch“. Bei manchen durchaus beliebte Blättchen, denn sie drücken ja Freiheit aus und Eltern, die sich für ihr Hobby interessieren. Beides ist erstmal gut. Aber die meisten Kinder stehen da nicht. Denn „Mach doch, was du willst“ steht für die Kinder auch dafür, dass sich die Eltern nicht richtig kümmern, ihnen das Kind egal ist.

Die Kinder wissen im Grunde, dass ihre Eltern in diesem Bereich Regeln einführen, weil sich Eltern Sorgen um sie machen, um ein gesundes Aufwachsen ihres Kindes. Noch deutlicher wird es bei der Frage „Wie würdest du reagieren, wenn du ein Kind hättest, das sich nicht an Medienregeln hält?“ Kaum jemand steht da noch bei „Mach doch was du willst“. Regeln werden insofern auch als Fürsorge erlebt.

Wie können Eltern Regeln setzen?

Die Regeln sollten für die Kinder nachvollziehbar und immer wieder auch verhandelbar sein. Die Medienregeln wachsen so mit den Kindern mit. Regeln sollten auch den Nutzungsgewöhnungen entsprechen, also besser noch zwei Spiele als eine strikte Zeitregel, weil Mitten im Spiel wird niemand gerne unterbrochen. Eltern sollten sich darüber hinaus immer bewusst sein, dass Kinder auch am Modell lernen, also ihr eigenes Medienverhalten am Essenstisch, beim Schlafengehen, während Gesprächen usw. reflektieren. Eine große Herausforderung.

Zentral ist auch, dass das Kind mit problematischen Dingen (etwa Mobbing, Gewalterfahrungen) immer zu einem Elternteil kommen kann und dann Unterstützung erfährt und keine Angst vor Strafe oder Abwertung hat. Auch beim Thema Medien ist daher grundsätzlich wichtig, dass Eltern zu ihren Kindern eine verlässliche, vertrauensvolle Bindung haben. Denn auf Dauer kann kein Elternteil, auch keine pädagogische Fachkraft kontrollieren, was ein Jugendlicher auf seinem Smartphone alles erlebt oder auch erleben muss.

Hände klammern sich um den Controller einer Spielekonsole.

Zocken bis der Controller glüht? Die Spieldauer Ihrer Sprösslinge sollten Eltern im Blick haben. Foto: pixabay/superanton

Welche Warnsignale gibt es für Cybermobbing?

Warnsignale sind beispielsweise, wenn das Kind oft traurig ist, sich zurückzieht und Angst hat. Auch Bauch- und Kopfschmerzen oder Schlafstörungen können Warnsignale sein. Allerdings ist es schwer zu unterscheiden, ob nun Mobbing, Liebeskummer oder ein Virus die Ursache sind. Kinder haben es oft schwer sich bei Mobbingerfahrungen zu öffnen, weil sie befürchten selbst beschämt zu werden oder dass Erwachsene etwas tun, was ihre Situation noch verschlimmern könnte. Um es Kindern einfacher zu machen könnten Erwachsene daher zusichern: Ich unternehme nichts, ohne es mir dir zu abzusprechen. Unterstützung können sich Kinder und Eltern unter anderem beim Bündnis gegen Cypermobbing suchen.

Ab wann sollten sich Eltern Sorgen machen?

Eine Studie des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) geht davon aus, dass mittlerweile drei bis fünf Prozent der Zehn- bis 17-Jährigen ein pathologisches Nutzungsverhalten aufweist. Wie bei anderen Süchten auch, ist es nicht ganz leicht zu spüren, ob der Medienkonsum noch altersangemessen, gesellschaftlich normal, für das Kind unschädlich oder schon zu viel, riskant oder gar süchtig ist.

Sucht ist dabei nicht allein eine Frage der Medienzeit. Dennoch ist es ein Warnsignal, wenn das Kind regelmäßig nicht aufhören kann, Medienzeiten ständig unterläuft und sehr gereizt und aggressiv reagiert, wenn auf deren Einhaltung bestanden wir. Ein zentrales Warnsignal ist vor allem der Verlust anderer Interesse und Aktivitäten wie Sport, Freundschaften, Musik oder ähnliches. Bei ernsten Sorgen können Erziehungsberatungsstellen oder auch die Beratung bei release e.V. anonym und kostenlos aufgesucht werden.

Ein Kind hält ein Smartphone mit buntem Display in der Hand.

Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Smartphone will gelernt sein.  Foto: Daniela Krause

Welche Rolle spielen außerschulische Angebote bei der Aufklärung?

Grundsätzlich ist es gut, wenn Jugendliche Angebote für kreative, projektbezogene Mediennutzung erhalten und ihre Geräte nicht nur passiv konsumieren. Gut sind Jugendzentren auch, weil sie Freizeitangebote machen können ohne Mediennutzung wie zum Beispiel kochen, klettern oder Kanufahren.

Was wünschen Sie sich von der Politik?

Mein Kollege bei release e.V., der bei uns in der Suchttherapie arbeitet, sagt, der offene Zugang der Kinder- und Jugendlichen zu Smartphones und Internetnutzung ist fatal. Es wäre als würden wir sagen: Hier ist ein Suchtmittel, schaut, dass ihr damit gut umgeht. Hier sind Porno- und Gewaltdarstellungen, aber geht damit gut um, am besten ihr schaut gar nicht hin. Hier könnt ihr sehen wie andere immer schöner, besser, erfolgreicher und lustiger sind als ihr, aber macht euch nicht so viel draus. Das kann nicht funktionieren. Damit gut umzugehen bedarf es schon eine Menge Reflexionsfähigkeit und auch die Fähigkeit zu inneren Distanzierung und ein gutes Selbstwertgefühl. Medienkompetenz hat daher viel mit Fähigkeiten und Lebenskompetenzen zu tun, die Kinder maßgeblich besser erstmal ohne Medien lernen.

Ich finde es auch richtig, wenn wie in Bremen jetzt beschlossen, das private Smartphone in Schulen ganz verboten ist und Mediennutzung dann ausschließlich im Unterricht stattfindet.

Ich glaube daher auch, dass wir gesellschaftliche Regelungen bräuchten, zum Beispiel, dass es gesetzliche Regelungen zu einem Mindestalter für ein eigenes Smartphone bedarf. Eltern kämen dann nicht so unter Druck, ihrem Kind immer früher ein Smartphone zu schenken, weil es vermeintlich alle anderen in der Klasse schon haben. So etwas würde erheblich entlasten. Ich finde es auch richtig, wenn wie in Bremen jetzt beschlossen, das private Smartphone in Schulen ganz verboten ist und Mediennutzung dann ausschließlich im Unterricht stattfindet. Zudem würde ich es begrüßen, wenn Medienerziehung, -nutzung und -kompetenz ein durchgehender Inhalt des schulischen Curriculums wäre, zum Beispiel als festes, durchgehendes Fach in den Oberstufen. Internet, KI und social Media wird wichtiger Bestandteil unser aller Lebenswelt bleiben. Beschäftigung damit ist daher zentral und unumgänglich.

 Experten-Ideen für einen verantwortungsbewussten digitalen Familienalltag

  • Begleitete Mediennutzung im Grundschulalter: gemeinsam schauen, gemeinsam online spielen
  • technische Möglichkeiten der Begrenzung nutzen (Zeiten, erlaubte Apps) und Kinderschutzeinstellungen vornehmen
  • Familienregeln aufstellen und selbst Vorbild sein bzw. einen verantwortungsvollen Umgang vorleben, zum Beispiel Gespräche mit dem Kind nicht „nebenher“ (laufender Fernseher, mit Smartphone beschäftigt), während der Mahlzeiten keine Bildschirmmedien, Radio ausstellen, als Eltern bewusst medienfreie Zeiten einplanen, kein Smartphone im Schlafzimmer beim Einschlafen, medienfreie Aktivitäten anbieten: persönliche Gespräche, Bewegung draußen, Unternehmungen, Vereine, gemeinsame Offline-Spiele etc.

Über die Aktivitäten des Vereins Release haben wir hier schon einmal berichtet.

Fünf Surf-Tipps für Kinder und Eltern

schau-hin.info
Der Medienratgeber für Familien unterstützt Eltern und Erziehende dabei, sich über Trends in der Medienwelt sowie über Themen wie Smartphones, Tablets, soziale Netzwerke, Games, Apps, Medienzeiten und Streaming zu informieren. SCHAU HIN! bietet praxisnahe Orientierung und gibt Tipps, wie der Medienkonsum von Kindern im Alltag kompetent begleitet werden kann.

flimmo.de
FLIMMO ist ein Elternratgeber rund um TV, Streaming, YouTube, TikTok, Instagram und Kino. Er hilft Familien dabei, sich im großen Medienangebot zurechtzufinden und passende Inhalte altersgerecht auszuwählen. Eine Ampel zeigt auf einen Blick, ob ein Film, eine Serie oder ein Kanal für Kinder geeignet ist – und ab welchem Alter.

Elternguide.online
Dieses Angebot unterstützt Eltern bei der Medienerziehung und gibt praktische Hilfestellung, um Kinder beim Umgang mit Apps, Spielen, Websites und sozialen Netzwerken zu begleiten. Das leicht zugängliche Informationsportal Elternguide.online stellt eine Vielzahl an Artikeln, Audio-Beiträgen, Videos, Tool-Beschreibungen und Erklärungen bereit. Getragen wird der Guide von dem gemeinnützigen Verein Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e. V. und Partnern.

fragfinn.de
Diese Seite stellt einen sicheren Surfraum zur Verfügung, der speziell für Kinder von circa sechs bis zwölf Jahren entwickelt wurde. Dort können sie das Internet eigenständig entdecken, ohne auf ungeeignete Inhalte zu stoßen. Grundlage des Angebots fragfinn.de ist eine sogenannte Whitelist. Mit der Kindersuchmaschine können die jungen Nutzer alle Seiten, die sich auf der Positivliste befinden, durchstöbern.

gutes-aufwachsen-mit-medien.de
Die Initiative „Gutes Aufwachsen mit Medien“ unterstützt bundesweit Eltern und pädagogische Fachkräfte bei der Medienerziehung und eröffnet Kindern und Jugendlichen altersgerechte Zugänge zur digitalen Welt. Gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) setzt sie sich dafür ein, gute Rahmenbedingungen für Medienkompetenz zu schaffen.

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