Die Affäre Bordward: Stundenlanges sitzen in verqualmten Zimmern

Blick vor und hinter die Kamera während einer Fernsehproduktion.

Von Andree Wächter

Was wären Filme ohne Komparsen? Man stelle sich Ben Hur ohne die vielen Besucher beim legendären Wagenrennen vor. Im Film Gandhi sollen laut Film-Lexikon rund 300.000 Komparsen dabei gewesen sein. Sie sind also wichtig für Menschenmengen oder für ein Stadtleben. Da ich so etwas schon immer mal ausprobieren wollte, bewarb ich mich beim Film mit dem Arbeitstitel „Die Affäre Borgward“. Ich bekam die Rolle als Referent vom damaligen Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen. Neben den Dreharbeiten in der Hansestadt gab es auch einen Drehtag in Bruchhausen-Vilsen bei der Museumsbahn. Der fertige Film lief zuerst in der ARD und dann in den dritten Programmen als Wiederholung. 

Die Museumsbahnhalle verwandelte die Requisite in eine Borgward-Produktionshalle und in ein Ingenieur-Büro. An den Bürowänden hingen technische Zeichnungen, ein Zeichenbrett stand in der Ecke und die Dampfloks wichen echten Borgwards. Ich war in diesen Szenen nicht als Komparse eingeplant. Doch eines hatten wir Statisten gemeinsam: Bereits Wochen vor dem ersten Drehtag suchte die Agentur Extra Faces per Rundmail Komparsen. Sie suchten Männer und Frauen für ein Dokudrama. Als weitere geheimnisvolle Info hieß es: Der Film spielt in den 1960er-Jahren und handelt von einem Autobauer. Daher sollten die Personen keine Tattoos oder bunte Haare haben. 

Auf nach Bremen. In der ehemaligen Tabakbörse hatte die Firma Extra Faces ein Casting vorbereitet. Es begrüßte mich Sarah, eine Agenturmitarbeiterin. Beim Film reden sich alle, wie ich am Drehtag erfuhr, nur mit dem Vornamen an – egal ob Regisseur, Darsteller, Komparse oder Crewmitglied. Sarah gab mir einen Fragebogen und sagte, dass ich nach dem Ausfüllen zum Fotoshooting müsse. Im Fragebogen wollten sie von mir die üblichen Dinge wissen, beispielsweise Konfektionsgröße, Augenfarbe und an welchen Tagen ich Zeit habe. Die zwei Din-A4-Seiten waren in knapp zehn Minuten ausgefüllt. Mit dem Papier in der Hand stellte ich mich brav ans Ende der Schlange zum Fotografieren. Rund ein halbes Dutzend Männer und Frauen waren noch vor mir dran. 

Fotos wie im amerikanischen Krimi

Die Fotografin erklärte mir, dass ich mich an eine weiße Wand stellen und den Fragebogen auf Kinnhöhe halten solle. Ich kam mir wie in einem amerikanischen Krimi vor. Dort halten die Gefangenen auch immer Tafeln mit ihrer Häftlingsnummer hoch. Bei mir hatte es den Hintergrund, dass auf dem Blatt die jeweilige Castingnummer stand. So konnten später die Bilder zugeordnet werden. Die Fotografin machte je ein Bild von vorne und im Profil. Bis hierhin verlief mein Casting recht flott. Fragebogen und Foto knipsen hatten rund 20 Minuten gedauert. Doch nun kam es ins Stocken. 

Vom Fotoraum ging es zurück zur Anmeldung. Dort sollten, laut Sarah, die verschiedenen Komparsenrollen vergeben werden. Das Problem: Jeder Teilnehmer wurde einzeln in ein kleines Büro gerufen, wie an der Fleischtheke, Nummer für Nummer. Im Warteraum konnte rund die Hälfte der Menschen sitzen. Die andere Hälfte stand im Raum oder im Flur. Es war so voll wie beim Hausarzt am Montagmorgen. Zum Glück gab es noch kein Corona.

Bei mir auf dem Bewerbungsbogen stand oben eine 33. Aufgerufen wurde gerade die 23. Mir war klar, dass es länger dauern wird – Geduld war gefragt. Ich lehnte mich entspannt an die Wand und hörte den anderen Mitstreitern gespannt zu. Einige kannten sich flüchtig von anderen Filmproduktionen. Anscheinend ist Komparse zu sein ein Hobby für Studenten und Rentner. Je nach Film gibt es eine unterschiedlich hohe Gage, wobei das Wort Gage eher ein Synonym für Taschengeld ist. 

 

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Ein Mann erzählte, dass er und seine Frau schon häufiger mitgespielt haben. In einem Film waren sie ein Paar, das an einem Eiswagen Eis kaufte, dran leckte und wegging. Während der ersten zehn Durchgänge habe ihnen das Eis noch geschmeckt, meinte der Mann. Danach war sein Bedarf an Eis dieser Sorte gedeckt. Die Herausforderung dabei war: Die Eiskugeln mussten immer die gleiche Farbkombination in der Tüte haben.

Eine andere Frau meinte, sie habe schon bei in einer amerikanischen Produktion mitgespielt. Ihre Erklärung: Die Amerikaner verlegen Produktionen nach Deutschland, weil hier viele Kosten – auch für Komparsen – geringer seien als in Hollywood.

Andere Wartende hatten den Traum von einer kleinen oder großen Sprechrolle als Motivation. Ein Mann, der neben mir stand, erzählte, dass er nebenbei Sprech- und Schauspielunterricht nimmt. Welche Rolle er bekam, weiß ich nicht, da er eine Nummer nach mir hatte. Leider habe ich ihn auch nicht im fertigen Film entdeckt.

Inzwischen wurden weitere Bewerber ins Büro gerufen. Nur noch drei Nummern und dann war ich dran. In einem kleinen Büro saß Matthias Schuart, ein Mitglied des Regiestabes. Der große Tisch vor ihm war voll mit Drehplänen. Er verglich die freien Rollen mit den Tagen, an denen ich Zeit habe. Ich bekam die Rolle als Referent von Bürgermeister Wilhelm Kaisen. Ein Einsatz in Bruchhausen-Vilsen war somit passé. Was sie mir noch mitteilten: Es seien zwei Drehtage geplant. An beiden Tagen musste ich dem Team ganztägig zur Verfügung stehen. Ich war gespannt. Nach knapp zehn Minuten konnte ich auch schon wieder gehen. Mit nach Hause bekam ich noch schriftliche Informationen. Es wurde vermerkt, wann ich zur Kostümprobe und zu den Drehtagen zu erscheinen habe. Dann folgten noch Hinweise, wie man sich am Set zu verhalten habe. So war es verboten zu fotografieren und das Smartphone musste im Flugmodus oder ganz ausgestellt sein.

Kostümprobe für „Die Affäre Borgward“

Mein erster Drehtag rückte näher. Rund eine Woche vorher wurde ich zur Kostümprobe eingeladen. Wieder ging es nach Bremen ins Gebäude am Überseehafen. Matthias vom Regiestab begrüßte mich nett und zuvorkommend. Als ersten Schritt schickte er mich zu einer Hairstylistin. Meine Haare wurden gnadenlos gekürzt. Mit dem elektrischen Langhaarschneider zauberte sie mir eine Fasson-Frisur, oder neudeutsch: Undercut.

Von der Hairstylistin begleitete Matthias mich und zwei weitere Komparsen in einen anderen Teil des Gebäudes. Dort befand sich die „Kleiderkammer“. Nora und Pauline nahmen uns freundlich in Empfang. Sie schickten uns in verschiedene Räume und gaben uns diverse Kleidungsstücke zur Anprobe. Für meine Rolle als Referent vom damaligen Bremer Bürgermeister war ein Anzug vorgesehen.

Nun muss man wissen, dass ich mit 1,83 Meter zwar normal groß bin für die heutige Zeit, aber Langgrößen oder Slim-Fit benötige. Größen, die in den 1960er-Jahren vermutlich weniger gefragt waren.

Der erste Anzug passte überhaupt nicht. Beim Zweiten saß das Sakko perfekt, nur die Hose hatte „Hochwasser“. Was tun? Mit einigen Tricks versuchte Pauline, es irgendwie passend zu machen. Doch am Ende sah es nicht chic aus. Ohne Kostüm verließ ich die „Kleiderkammer“ wieder. Nun sollte ich erst am Drehtag ein passendes Outfit bekommen. Ich war gespannt…

Lange Drehtage beim Film „Die Affäre Borgward“

Einen Abend vor meinem ersten Drehtag bekam ich eine Email von Sarah mit den Infos, wo und wann ich zu sein habe. Für 8 Uhr war ich in der Maske eingeplant. Dort brachte eine Hairstylistin meine Haare in Form. Weiter ging´s in die „Kleiderkammer“. Dort bekam ich einen passenden Anzug. Dies alles passierte wieder in der ehemaligen Tabakbörse.

Alle hergerichteten Komparsen bildeten Fahrgemeinschaften und fuhren zum Bremer Rathaus, unserem Einsatzort. Als ich den Eingangsbereich betrat, war nicht klar, wo ich hinmusste. Ein Mann kam zufällig die große Treppe mit dem roten Teppich herunter. Ich frage ihn, wo ich denn hinmüsse. Er wusste es auch nicht. Es stellte sich später heraus, dass es sich um André Mann (früher Klöhn) handelte, einen der Hauptdarsteller. In dem Film spielt er den Wirtschaftssenator Karl Eggers. Mein Namensvetter nahm mich mit in die obere Ratshaushalle. Dort sagte mir Regieassistent Matthias, dass die Komparsen draußen in einem Bus warten sollen. Also wieder zurück, einmal durch die minus elf Grad kalte Luft in den Bus. Auf dem Weg dorthin sammelte ich weitere Komparsen ein. Immerhin war es im Bus warm und es gab Kaffee und Brötchen. Und nun begann wieder die „Lieblingsübung“ aller Komparsen: Warten.

Die Zeit nutzte ich, um mit den anderen Komparsen ins Gespräch zu kommen und einige Fotos im Kostüm zu machen. Am Set war fotografieren strengstens verboten.

Die anderen Mitstreiter waren hauptsächlich Rentner und Studenten. Das Spektrum erstreckte sich vom Pharmareferenten über einen Kunstexperten bis hin zum ehemaligen leitenden Angestellten in einer Bank und Schauspielstudenten. Außer Janin – sie arbeitet im wahren Leben in einer Apotheke und hatte sich extra für den Drehtag freigenommen.

Schnell war uns klar, dass wir erst einmal eine WhatsApp-Gruppe gründen mussten. Jeder stellte seine Smartphone-Bilder in die Gruppe. Die Männer trugen Anzüge und die Frauen waren festlich gekleidet. Die Auflösung, warum dies so war, folgte beim Dreh.

Bevor es losging, kam Regieassistent Matthias in den Bus und gab letzte Anweisungen. Er erklärte uns die Kommandos. Wichtig war „Wir drehen“ – dies bedeutete: Sprechen einstellen, es wird ernst. Dann kam die berühmte Klappe und das Startsignal „Bitte“ von Regisseur Marcus O. Rosenmüller. Ich vermisste „Und Action“. Aber gut, man muss ja nicht alles so machen, wie im Film.

Die Sonne wird ferngehalten. Per Scheinwerfer wird für immer gleiches Licht gesorgt.

Die Sonne wird ferngehalten. Per Scheinwerfer wird für immer gleiches Licht gesorgt.

Per Funk bekam Matthias das Signal, dass wir gebraucht wurden. Anscheinend war die vorherige Szene zur Zufriedenheit des Regisseurs im Kasten. Geschlossen ging´s in die obere Rathaushalle. Die Mitarbeiter stellten über 20 Komparsen an Stehtische. Hektisch kamen drei Frauen aus der Kostümabteilung und tauschten unsere Krawatten aus. In der Szene sollten alle Darsteller weiße Krawatten tragen. Parallel dazu sorgten die Lichttechniker dafür, dass die Sonne draußen blieb und, dass immer die gleichen Lichtverhältnisse herrschten. Dazu bauten sie riesige Scheinwerfer auf.

Nachdem alles stand, kam Marcus O. Rosenmüller und stimmte uns auf die Szene ein. Es ging um die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Carl Borgward (gespielt von Thomas Thieme) im Rathaus. Von dem Inhalt und den Dialogen darf ich nichts verraten.

Es ging los. Die Kommandos waren streng und in einem Befehlston, den ich noch von der Bundeswehr kannte. Doch bei mehr als 40 Personen am Set und dem eng gesteckten Zeitplan ist anders kein strukturiertes Arbeiten möglich.

Zuerst ein Probedurchgang. Es folgten kleine Korrekturen. In meiner Rolle sollte ich mich mit zwei weiteren Gästen am Stehtisch unterhalten und gelegentlich zu Carl Borgward rüber schauen. Schnell war die erste Aufnahme im Kasten. Es folgten vier, fünf weitere Durchgänge. Ich war erstaunt, wie präzise die Schauspieler den Text immer gleich betonten und alle Gesten replizierten. Auch die Komparsen versuchten ihre Bewegungen immer exakt zu wiederholen. Matthias gab uns den Tipp: Wir sollten uns an markante Stellen (Wörter oder Gesten) orientieren. Dies war hilfreich, da mein Nachbar mir in einer anderen Szene etwas ins Ohr flüsterte. Wir verständigten uns auf das Signalwort „Zwangsarbeiter“. Wenn wir dieses Wort hörten, steckten wir unsere Köpfe zusammen.

Zurück zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Ein anderer Schauspieler kam mit einer Zigarette ins Bild. In jedem Durchgang bekam er eine neue Zigarette. Sie musste immer gleich lang sein. Dies war wichtig, da die späteren Schnitte sonst schwierig wären und der Zuschauer es merken würde. Kurios: Bei einem Durchgang versagte das Feuerzeug. Die Szene wurde abgebrochen und alle mussten schmunzeln.

Zwischen den einzelnen Aufnahmen huschten Teammitglieder übers Parkett. Sie richteten die Krawatten und füllten die Sektgläser wieder auf. André Mann, der am Stehtisch vor mir stand, kam zu mir herüber und wir wechselten ein paar Worte. Dann rief Rosenmüller „Alles auf Anfang“ und die Szene wurde noch einige Male gedreht.

Es folgten einige Minuten Pause und die Kameramänner positionierten die beiden Kameras um. Es wurde die gleiche Szene noch mehrmals gefilmt, nur aus anderen Blickwinkeln. Nach mehr als drei Stunden war die Szene aus fast allen Richtungen aufgenommen.

Die Techniker bauten das ganze Equipment blitzschnell ab, um es im Nachbarraum wiederaufzubauen. Dort spielten die nächsten zwei Szenen. Pikant: Sie wurden direkt hintereinander gedreht, liegen aber im Film einige Monate auseinander.

Das größte Lob ist, wenn der Regisseur nicht meckert

Für diese Szene wurde ich nicht benötigt und durfte auch nicht mit ans Set. Also hieß es: Ich übe das Warten. Nach mehr als zwei Stunden hatte das Warten schließlich ein Ende. Ich durfte ans Set und gehörte zur Gruppe der Senatoren und Referenten, die nach dem Ende einer Sitzung den Raum verließen. Auch hier darf ich nichts über den Inhalt schreiben. Da ich seit einigen Jahren im Samtgemeinderat in Bruchhausen-Vilsen sitze, war diese Rolle wie für mich gemacht.

Nach elf Stunden war mein erster Drehtag zu Ende. Matthias rief uns Komparsen zusammen. Er sagte, das größte Lob ist, wenn der Regisseur nicht meckert. Und er hat nicht gemeckert. Zufrieden fuhr ich nach Hause und freute mich auf den kommenden Drehtag.

Diesen konnte ich mehr genießen als den ersten. Einige meiner Mitstreiter traf ich wieder und die Abläufe waren bekannt. Bis auf eine kurze Szene durfte ich in allen anderen mitwirken. So vergingen die sieben Stunden recht schnell.

Alle Komparsen sind nun gespannt, ob unsere Szenen auch zu sehen sein werden und ob wir uns erkennen. Vermutlich bin ich nur wenige Sekunden zu sehen, aber Alfred Hitchcock hat es auch immer so in seinen Filmen gemacht.

Die Affäre Borgward: Hintergrund zum Aufstieg und Fall

Der Name des Automobilherstellers Carl Borgward ist noch heute ein Synonym für das westdeutsche Wirtschaftswunder. Für Hundertausende ist Borgwards „Isabella“ das erste eigene Auto nach dem Krieg. Doch 1961 geht das Unternehmen des leidenschaftlichen Konstrukteurs pleite, ausgerechnet in Bremen, dem damals reichsten Bundesland. In einer NDR-Pressemitteilung heißt es weiter: Hartnäckig hält sich die Legende, Politik und Industrie, der Bremer Senat und konkurrierende Firmen hätten Borgward den Garaus gemacht.

Wieso wurde gerade im florierenden Aufschwung kein Retter für das schlingernde Unternehmen gefunden? Dieser Frage geht das NDR-Dokudrama mit dem Arbeitstitel „Die Affäre Borgward“ nach. Es erzählt die dramatische und tragische Geschichte eines scheiternden Visionärs.