„Deine Hände sind dein Zaun“
Gudrun Glaser ist zertifizierte Wing Tsun-Trainerin und gibt Selbstverteidigungskurse für Frauen. Sie findet: Im Notfall müssen Frauen den Spieß umdrehen und selbst gefährlich werden.
Gewalt in und außerhalb einer Beziehung kann jede Frau treffen. Nach Angaben des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben hat in Deutschland bereits jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt erlebt. Die Bremerin Gudrun Glaser möchte sie dazu befähigen, dieser Gewalt etwas entgegenzusetzen. An ihrer Wing Tsun-Schule lernen Teilnehmerinnen, wie sie sich bei einem Angriff verhalten und wirksam zur Wehr setzen können. Warum Wing Tsun eine besonders effektive Form der Selbstverteidigung ist, erzählt die Trainerin im Interview.
Frau Glaser, haben Sie sich schon einmal im Alltag gegen einen Angreifer zur Wehr setzen müssen?
Gudrun Glaser: Ja, aber einigen heiklen Situationen vor meiner Wing Tsun Zeit bin ich nur mit Glück entkommen. So bin ich als junge Frau oft alleine getrampt, und einmal bin ich bei einem Lkw-Fahrer mitgefahren. An einer Raststätte, wo er angeblich kurz pinkeln wollte, bereitete er stattdessen „sein Teil“ vor und kam zur Beifahrertür. Ich konnte entkommen, indem ich zur Fahrerseite raus in Richtung Autobahn gerannt bin und wild gestikuliert habe. Da ist er eingestiegen und weggefahren. Unter anderem aus dieser Situation habe ich gelernt, dass ich mich verteidigen können muss, sollte es mal eng werden. Es gibt da einige Situationen, die ich immer wieder gerne mit den Frauen in Trainings durchspiele.
Welche Situation zum Beispiel?
Angenommen, du wirst in deiner Wohnung angegriffen. Du kommst gerade noch so aus der Wohnung raus. Da ist eine Treppe. Wohin fliehst du, wenn du davon ausgehst, dein Angreifer holt dich ein? Rennst du die Treppe nach oben oder nach unten?
Spontan hätte ich gesagt: nach unten.
Ja, die meisten Frauen wollen tatsächlich nach unten fliehen. Aber wenn der Angreifer so knapp hinter dir ist, kann es strategisch sinnvoller sein, nach oben zu rennen, um eine bessere Verteidigungsposition zu haben. Bevor er dich erwischt, musst du dich umdrehen und wehren. Bist du ein paar Stufen höher, kannst du dich am Treppengeländer festhalten und nach unten treten.
In der Halle haben wir eine Treppe, an der die Frauen genau das ausprobieren können. Dann stehe ich da mit meinem Schlagpolster und sage: „So, ich komme. Jetzt wehr dich.“ Die Teilnehmerinnen merken ganz erstaunt, wie viel Kraft sie dabei haben. Die Erfolgserlebnisse mit den Übungen sorgen für Selbstvertrauen.
Ich betone: Es geht nicht darum, ein permanentes Bedrohungsszenario zu erzeugen. Wir wollen ja im Alltag normal und unbefangen miteinander umgehen. Nicht jeder Mann hat Böses vor. Bedrohliche Situationen verlieren ihren Schrecken, sobald die Frau merkt, ich kann immer noch reagieren, auch wenn´s eng wird. Eine gewisse Wachsamkeit macht im Alltag gelassener, nicht paranoider.
Wie schafft man es in dem Moment äußerster Bedrängnis, seinen Fluchtinstinkt zu bezwingen, aus der Schockstarre herauszufinden und sich aktiv zu wehren?
Da hilft üben und ausprobieren. Zum Beispiel: Wie komme ich am besten an einem vorbei, wenn ich in der Klemme stecke? Und das, bevor überhaupt etwas Schlimmeres passiert. Im kritischen Moment zählen Geschwindigkeit und der Überraschungseffekt. Am besten ist es aber, wenn man sich gar nicht erst isolieren lässt.
Man sollte also vorausschauend denken?
Ja, genau. Isolation kann durchaus auch ein schleichender Prozess sein: Meist kennt der Täter das Opfer oder er beobachtet es über einen längeren Zeitraum hinweg, die Gepflogenheiten, die Wege – dann schlägt er irgendwann dort zu, wo er glaubt, die günstigste Gelegenheit zu haben.
Wenn eine Frau merkt, dass sie verfolgt oder beobachtet wird, sollte sie genauer hingucken: Wer ist das? Kenne ich die Person? Gezielte Aufmerksamkeit kann einen Täter schon mal abhalten. Denken wir an ein Wolfsrudel, das ein Reh reißen möchte. Das Rudel stürzt sich am ehesten auf das kleinste, schwächste und auf das unaufmerksamste Reh. Also besser auf dem Heimweg abends mal den Kopfhörer weglassen.
Was ist darüber hinaus wichtig, um möglichst gar nicht erst Opfer zu werden?
Wichtig ist die Körpersprache. Ein selbstbewusstes Auftreten ist der erste Schritt, um Täter davon abzubringen, mich überhaupt auszuwählen. Wenn ich ausstrahle, dass ich mich zu behaupten weiß, dann ist es genau das, was er nicht will. Ich mache den Frauen außerdem klar: „Deine Hände sind dein Zaun“. Die Hände weit nach vorne, Handflächen Richtung Angreifer, dazu eine aufrechte Körperhaltung. Diese abwehrende Haltung und ein lautes „Nein!“ sind deutliche Signale: Bis hierhin und nicht weiter! So kann ein Angreifer oft schon gestoppt werden. Falls er doch noch wagt, näher zu kommen, sind deine Hände schon in der richtigen Position, um schnell zu reagieren.
Im Mai gab es einen Übergriff auf eine Joggerin im Bürgerpark. Die Frau wurde von ihrem Angreifer zu Boden geworfen und sexuell missbraucht, hieß es in den Medien. Kann man sich in solch einer Lage überhaupt wehren?
Am Boden liegen ist eine Situation, vor der wirklich die meisten Frauen Angst haben. Wehrlos ist man in dieser Position aber nicht. Am Boden ist die Selbstverteidigung nur schwieriger. Deshalb sollte man schnellstens den Spieß umdrehen, für den Täter selbst gefährlich werden und ihn an Kehlkopf und Augen attackieren.
Die Frauen, die in größter Gefahr schweben, sind Frauen, die schon länger geschlagen wurden und sich gerade getrennt haben oder sich trennen wollen.
Ich lege den Fokus aber gerne auf den Moment davor, so dass es gar nicht erst dazu kommt, dass ich am Boden lande. Ich könnte rechtzeitig Pfefferspray einsetzen, um den Angreifer auf Abstand zu halten, oder im Nahbereich könnte ich meine Kampfkraft mit Stein, Stock, Schlüsselbund oder Kugelschreiber effektiv verstärken. Die Statistik besagt: In 80 Prozent der Fälle, in denen sich die Frau heftig wehrt, lässt der Täter nochmal ab.
Welche Frauen kommen in Ihre Selbstverteidigungskurse?
Die meisten Frauen haben irgendeine unangenehme Situation erlebt, in der sie sich ratlos fühlten. Mir geht es jetzt darum, die Frauen mental und physisch aufzurüsten. Sie sollen ihre Hemmungen verlieren, lernen in die Offensive zu gehen und Grenzen zu setzen. Niemand hat das Recht, dich anzufassen oder dir zu nahe zu treten. Wer näher ran will, sich zum Beispiel neben dich setzen möchte, muss dich fragen.
Und wenn der Täter der eigene Partner ist? Oder der Ex-Partner?
Beides ist tatsächlich häufiger der Fall. Die Frauen, die in größter Gefahr schweben, sind Frauen, die schon länger geschlagen wurden und sich gerade getrennt haben oder sich trennen wollen. Aufklärung ist total wichtig, insbesondere was die rechtlichen Möglichkeiten und die typischen Strategien der Täter anbelangt. Hier können Frauenberatungsstellen, die Polizei oder ein Anwalt helfen. Schlagende Männer versuchen nämlich ihre Frau oder Freundin Stück für Stück von ihren sozialen Kontakten zu isolieren.
Die Strategie geht mit Einschüchterungsversuchen noch weiter: „Wenn du dich wehrst, passiert etwas noch Schlimmeres.“ Angst und Scham sind daher gute Indikatoren für die Frauen, dass es Zeit ist, sich jemandem anzuvertrauen. Denn was soll noch Schlimmeres passieren? Es ist doch schon maximal schlimm!
Sie praktizieren und lehren Wing Tsun. Warum haben Sie sich für diese Kampfkunst entschieden?
Das mit dem Wing Tsun war naheliegend, weil mein Bruder das bereits gemacht hatte. Dem habe ich von einem Stalker-Erlebnis berichtet und er meinte, ich solle doch auch Wing Tsun lernen. Es ist eine schnelle und effektive Art der Selbstverteidigung. Körpergröße, Gewicht und Kraft spielen hier keine Rolle.
Was ist für Sie die Besonderheit an Wing Tsun?
Das Besondere an dieser chinesischen Kampfkunst ist, dass Abwehr und Angriff gleichzeitig stattfinden und ich den Gegner von der Aktion in die Reaktion zwinge. Ich nutze die Kraft und die Bewegungsrichtung des Gegners gegen ihn selbst und führe gezielte Attacken gegen empfindliche Körperstellen aus. Im Fall der Notwehr müssen Frauen den Spieß umdrehen und selbst gefährlich werden. Welcher Täter riskiert schon eigene Verletzungen? Das passt nicht ins Täter-Opfer Bild.
Das Interview führte Daniela Krause.
Zur Person: Gudrun Glaser
Gudrun Glaser hat eine Mission: Sie will Frauen in ihrem Selbstbewusstsein stärken, ihnen Wege aufzeigen, wie sie sich gegen Gewalt im Alltag schützen können. Und sie will den Tätern die Opfer wegnehmen. Dafür absolvierte sie im Jahr 1995 ihren Wing Tsun-Übungsleiter, um dann zwei Jahre später das Frauenprojekt an der Wing Tsun-Schule eigenverantwortlich zu übernehmen. Dort sowie an der VHS bietet sie regelmäßig Selbstverteidigungskurse und Wochenendseminare an.
Unter diesem Link finden Frauen Hilfe und Beratung bei häuslicher Gewalt.
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