Geschichte in Rotziegel

Hinter vielen Gebäuden steckt Geschichte. So etwa in Bremen-Nord. Bis auf Vegesack waren die heutigen Ortsteile- und Stadtteile bis 1939 vielfach eigenständige preußische Landgemeinden. Ein Rundgang.

Von Ulf Buschmann

Bis zum nächsten Termin ist noch ein wenig Zeit. Da lohnt es sich, die Straße entlangzuschlendern. „Am Bahnhof St. Magnus“ heißt sie. Auf beiden Seiten erstrecken sich Stadtvillen. Viele sind, dem Stil nach zu urteilen, Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts errichtet worden. Dazwischen: Wohnanlagen aus den 1970er- bis 1980er-Jahren. „Am Bahnhof St. Magnus“ führt zum heutigen Haltepunkt „Bremen-St. Magnus“ der Regio-S-Bahn 1, kurz RS 1 – ein Bahnsteig mit Fahrkartenautomat und Fahrstuhl für Menschen mit Einschränkungen. Mitte der 1970er-Jahre war diese Bauweise das Nonplusultra.

Kurz vor der Brücke, die die Bahnlinie und die parallel verlaufende A270 überspannt, fällt ein aus gebrannten Rotziegeln gebautes Haus ins Auge. Eines, wie es viele in dieser Region gibt. Der Baustil lässt darauf schließen, dass das Gebäude irgendwann zwischen 1800 und 1900 errichtet wurde. An der Fassade erregt die stark verwitterte, in Fraktur gehaltene Beschriftung Aufmerksamkeit: „Kaiserliches Postamt“. Beim an Lokalgeschichte interessierten Menschen klingelt es. Hier ist ein Stück baulicher Historie erhalten.

Ein alter Bremer Bahnhof mit einem Mercedes Strich 8 im Vordergrund.

So sah der Bahnhof Bremen-St. Magnus aus – eine Ansicht aus dem Jahr 1975. Foto: Heimatverein Lesum

Die Post an der Bahn

Diese unscheinbare Beschriftung des Hauses führt direkt in die Geschichte des heutigen Bremer Ortsteils. Bis zur Eingemeindung der einstigen preußischen Landgemeinden in die Stadt Bremen im Jahr 1939 war St. Magnus eigenständig – ebenso wie Lesum, Schönebeck, Grohn, Aumund und Blumenthal. Logisch, dass St. Magnus frühzeitig ein eigenes Postamt haben musste. Diese wurden im 19. Jahrhundert in der Regel in die Nähe bestehender Eisenbahnlinien gebaut.

Denn im Jahr 1862 wurde Bahnlinie Burg-Vegesack eröffnet, die heute Teil der RS 1 von Bremen-Farge nach Verden ist. Diese Stichstrecke der Linie Bremen-Bremerhaven sollte die neuen Industriebetriebe in Grohn und Schönebeck ans Netz anbinden. Unter anderem gab es eben auch einen Halt in St. Magnus. So konnten vermutlich Briefe, Pakete und Frachtsendungen vom „Kaiserlichen Postamt“ zum Halt der Bahn gleich in der Nachbarschaft gebracht werden.

Der Bahnhof Bremen-St.-Magnus mit einem Zug in Richtung Bremen-Vegesack im Vordergrund.

Im Jahr 1975 wurde der Bahnhof Bremen-St.-Magnus abgerissen. Er musste dem Ausbau der heutigen A270 weichen. Foto: Alfred Schuchardt

Auf Facebook informiert der Heimatverein Lesum über die Geschichte: „Nachdem St. Magnus anfangs nur eine ,Haltestelle’ erhielt, wurde später ein Bahnhofsgebäude mit überdachten Bahnsteigen, im Volksmund ,Dat Lütsche Hüseken’ genannt, errichtet. 1908/09 entstand ein neues Bahnhofgebäude, um dem ständig zunehmenden Ausflüglerstrom in die „Bremer Schweiz“ gerecht zu werden. Damals kostete eine Fahrt von Bremen nach St. Magnus noch 35 Pfennige.“ Leider wurde das Bahnhofsgebäude im Juli 1975 abgerissen, um Platz für den Ausbau der Bundesstraße 74 zu machen.

Noch eine Bahnlinie

Das kleine ehemalige „Kaiserliche Postamt“ in St. Magnus ist nicht das einzige Relikt aus Kaisers Zeiten. Viele Gebäude wurden im 19. und frühen 20. Jahrhundert gebaut. Dies war der Industrialisierung geschuldet. Ihr verdankt der heutige Bremer Norden die Bahnlinie von Farge nach Vegesack beziehungsweise in die andere Richtung. Hierzu wurde in den 1880er-Jahren eine eigene Gesellschaft gegründet: die Farge-Vegesacker Eisenbahn, FVE.

Ein Zug steht im Bahnhof Farge-Rekum.

Der Bahnhof Bremen-Farge ist heute Enstation der Regio-S-Bahn 1. Foto: Ulf Buschmann

An der 10,2 Kilometer langen Strecke wurden unter anderem im September und Oktober 1888 die beiden Bahnhöfe Blumenthal und Farge mit ihren Empfangsgebäuden errichtet und mehrfach erweitert. Aufgabe der FVE sollte in erster Linie der Gütertransport für die neu entstandenen großen Industriebetriebe wie die Bremer Woll-Kämmerei (BWK) sein. Doch alsbald erkannten die Planer, dass es ohne Personenbeförderung nicht geht.

Die Bahnhofsgebäude in Farge und Blumenthal existieren noch. Doch während Blumenthal heute in Privatbesitz ist, beherbergt das Haus in Farge das Büro der FVE. Auch der Fahrdienstleiter sitzt dort. Erhalten ist bis heute ein Teil des ehemaligen Wartesaals – mit Kassenschalter und kleinem Tisch. Auch ein historischer Tresor steht dort. Den habe die FVE aus Blumenthal herübergeholt, sagt eine FVE-Sprecherin.

Das Rathaus Farge-Rekum von vorne aus gesehen.

Das Rathaus der ehemals selbstständigen Gemeinde Farge wurde 1845 erbaut. Für einen Neubau der Grundschule soll es abgerissen werden.

Das Farger Rathaus

Gleich in der Nachbarschaft des Farger Bahnhofs steht das Rathaus an der Farger Straße – zwar ist es noch über der Tür zu lesen, doch diese Funktion hat es längst nicht mehr. Im Gegenteil, das Haus soll abgerissen werden. Es muss Platz für den Neubau der Grundschule Farge-Rekum machen. Damit geht eine bis ins Jahr 1845 zurückreichende Tradition zu Ende. Das Rathaus war zunächst als Bauernhaus errichtet worden.

Erst später wurde es Rathaus der bis 1939 eigenständigen preußischen Gemeinde. Ab 1923 wurden von der Farger Straße aus zudem die Geschicke des Dorfes Rekum geleitet. Sie war zuvor nach Farge eingemeindet worden, weil Rekum finanziell schwach auf der Brust war. Diese Regelung behielt Bremen bis 1960 bei. Seitdem werden Farge und Rekum als eigenständige Ortsteile geführt.

Und das Rathaus? Es ist heute die Begegnungsstätte „Eva-Seligmann-Haus“ des Vereins „Aktive Menschen in Bremen“, AMeB. Auch ein Außenposten des Polizeireviers Blumenthal war im Rathaus Farge untergebracht. Der ist inzwischen ins neue Feuerwehrgerätehaus nebenan umgezogen.

Eine ehemaliges Gebäude der BWK.

Das Sortiergebäude der Bremer Woll-Kämmerei wird Berufsschulgebäude und ist Teil des Kämmereiquartiers. Foto: Ulf Buschmann

Ein Gang durch Blumenthal

Bei der Suche nach kaiserlichen Relikten in Bremen-Nord darf der Gang durch Blumenthal nicht fehlen. Denn als die Kaiser das Deutsche Reich von 1871 bis 1914 regierten, entwickelte sich das einst beschauliche Fischerdorf zu einem kapitalen Industrieort. Blumenthal war bis 1932 gar Kreisstadt, bevor es zum Landkreis Osterholz kam. Tausende von Arbeitern kamen insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Ort, um in der Bremer Woll-Kämmerei, der BWK, zu arbeiten.

Das Unternehmen wurde 1883 von den beiden Konsuln Albrecht und Weinlich sowie von den Bremer Kaufleuten Claussen, Fritze, Hachez und Kulenkampff gegründet. Die Produktion begann 1884 – zunächst verließen vor allem im Lohnauftrag gefertigte Kammzüge das Werk. Doch in den 1960er-Jahren entwickelte sich die BWK vom Lohnunternehmen zu einem Anbieter mit eigenen Produkten. Wollkammzüge, Waschwolle, Kämmereiabgänge und Chemiefasern gab es. Doch zum 27. Februar 2009 war Schluss – die Nachfrage war in den Jahren zuvor bereits gesunken, die internationale Finanzkrise brach der BWK endgültig das Genick.

Danach kaufte die Bremer Wirtschaftsförderungsgesellschaft das Areal weitgehend auf. In den kommenden Jahren soll dort das Projekt „Kämmereiquartier“ verwirklicht werden. Hierzu gehört ein Berufsschulcampus. Die Fertigstellung des ersten Bauabschnitts war eigentlich für den Beginn des Schuljahres 22/23 geplant. Doch dieser Zeitplan ist längst Makulatur.

Das Blumenthaler Rathaus von vorne.

Das Blumenthaler Rathaus gehört zu den bedeutendsten Gebäuden Bremens. Foto: Ulf Buschmann

Blumenthaler Rathaus

Völlig unklar ist auch die Zukunft eines der bedeutendsten Gebäude der Stadt Bremen: des Blumenthaler Rathauses an der Landrat-Christians-Straße. Es steht seit 1994 unter Denkmalschutz. Errichtet wurde das Haus von 1908 bis 1910, weil die Verwaltung der aufstrebenden Kreisstadt dringend mehr Platz benötigte. Natürlich wollten die Blumenthaler zeigen, was sie haben, also klotzten die Architekten: hohes Walmdach, Türmchen, Giebel mit Uhr und Anspielungen an den Barock, den Klassizismus und Jugendstil.

Nachdem Blumenthal ebenfalls ein Teil Bremens geworden war, beherbergte das Rathaus von 1946 bis 2016 das Ortsamt sowie verschiedene Behörden. Auch das ehemalige 22. Polizeirevier hatte bis zum Jahr 1988 die Adresse Landrat-Christians-Straße. Inzwischen denkt das Bremer Innenressort darüber nach, nach vom Heidbleek zurück ins Rathaus zu kehren. Kleiner Hinweis: Die Arrestzellen im Keller des Rathauses existieren noch.

Eine Häuserreihe mit Wohnungen.

Das rote Gebäude im Hintergrund ist das ehemalige Postamt Vegesacks. Heute sind es Wohnungen und Praxen. Foto: Ulf Buschmann

Kurzer Blick nach Vegesack

Am wenigsten Relikte aus dem 19. und 20. Jahrhundert sind in Vegesack zu finden. Viele alte Gebäude sind entweder der Stadtsanierung 1975 bis 1985 zum Opfer gefallen oder viel älter. Dies liegt unter anderem daran, dass Vegesack seit dem Abzug der Franzosen bremische Exklave im preußischen Umland mit eigener Magistratsverfassung war. Damit war es erst 1939 vorbei, als auch die umliegenden Gemeinden zu Bremen kamen.

Trotzdem sind hier und da Relikte aus Kaisers Zeiten zu finden – so zum Beispiel das ehemalige Postamt an der Ecke Wilhelm-Hartmann-Straße/Bürgermeister-Wittgenstein-Straße/Alte Hafenstraße. Wann genau es errichtet wurde, ist nicht bekannt. Nach der Gründung der Bundesrepublik und der Neuordnung des Post- und Fernmeldewesens war das für Bremen-Nord zentrale „Postamt 70“ in Vegesack untergebracht. In den 1960er-Jahren entstand hinter dem kaiserlichen Repräsentativbau eine große Briefverteilanlage. Diese war bis 1982 in Betrieb, bis das Postamt 70 in seinen Neubau an der Schafgegend umzog. Aber auch dieser ist längst Geschichte – die Deutsche Post AG hat ihren Standort geschlossen.

Ansicht der Bremer Getreideverkehrsanlage.

Bei ihrer Errichtung im Jahr 1915 war die Getreideverkehrsanlage das größte Industriegebäude der Welt. Foto: Ulf Buschmann

Häfen und Getreideverkehrsanlage

Relikte aus Kaisers Zeiten zu suchen, funktioniert in Bremen nicht ohne den Blick auf die Häfen. Diese entstanden schließlich Ende des 19. Jahrhunderts mit der großen Weserkorrektion unter Ludwig Franzius. Freihafen I und II, die Industriehäfen – von der Stefaniekirchweide fraßen sich die Bagger bis zum Bremer Westen durch die Erde. Beeindruckend ist bis heute die Getreideverkehrsanlage.

Die Planungen begannen 1911. Das Ziel: Den stark gestiegenen Import von Futtergetreide aus dem Donaumündungsgebiet für die norddeutsche Viehmast bewältigen. Der Bau von des 40 Meter hohen und 200 Meter langen Silo I erfolgte 1914 bis 1916. Allerdings mit einer Unterbrechung bis 1919, dem Jahr der endgültigen Fertigstellung. Die Kapazität betrug 32.000 Tonnen. Es folgte der Bau von Silo II von 1926 bis 1929. Dadurch konnte die Lagerkapazität auf 75.000 Tonnen gesteigert werden.

Der Holz- und Fabrikenhafen mit der Roland-Mühle.

Ab Ende des 19. Jahrhunderts schlug das wirtschaftliche Herz Bremen unter anderem im Holz- und Fabrikenhafen. Foto: Ulf Buschmann

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